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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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selbst. Ich kann mich ganz gut allein beschäftigen.«
    »Ich muß also nicht Väterchen Frost spielen?«
    »Und du mußt mir auch kein Geschenk mehr machen, in dem nichts drin ist.«
    Ich senkte meinen Blick, ein Lächeln drängte herauf.
    »Ich hatte befürchtet, daß es nicht funktioniert hat.«
    »Nein, nein, funktioniert hat es, und wie es funktioniert hat.«
    Marya geriet ins Stottern.
    »Also je nachdem, was du eigentlich damit beabsichtigt hast. Es war jedenfalls total süß, daß du dich so um mich bemüht hast. Keiner hat sich damals so um mich bemüht.«
    Ich räusperte mich.
    »Ja, Tanja schon, aber das war was anderes. Kein Fremder.«
    Ich nickte.
    »Aber jetzt bin ich groß. Du mußt dich nicht bemühen.
    Mach dir einfach keinen Streß. Ok?«
    »Ok.«
    Marya gab mir einen Nasenstüber, bevor sie ins Haus ging. Mir. Ihrem dreißigjährigen Neffen. Marya. Die Nierenkosterin.
    Als es mir eine halbe Stunde später doch zu kalt wurde und mein Magen zu knurren begann, fand ich sie in der Küche über ein Buch gebeugt.
    »Was liest du?« fragte ich, während ich mich über den Kühlschrank hermachte.
    » Sie kommen! Die Hufe der Nacht,
    die Pferde des großen Schlafs kommen heran
    unter ihren Mähnen aus Dunkelheit
    Und immerdar fließen die Ströme
    Tief wie die Flutgezeiten des Schlafs fließen die Ströme
    Wir rufen – «
    » Sie kommen «
    fiel ich in ihren Sprechrhythmus ein,
    » meine großen dunklen Pferde kommen!
    Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe
    Die Pferde des Schlafs galoppieren,
    galoppieren über das Land. «
    Sie blickte mich an. Ich hatte mir Wurst, Butter und Brot genommen, aß gierig.
    »Du kannst das auswendig, Wasja?«
    »Ich hab Thomas Wolfe auf dem Internat gelesen. Er hat mir das Leben gerettet. Er und Blok und Rimbaud – «
    Marya wippte mit Kopf und Körper im Takt eines unhörbaren Rhythmus’, aufgeregt, erregt, als sie den Faden weiterspann:
    » – und Sologub, und Brjussow, und Balmont. Nur Claudel mag ich nicht.«
    »Ich auch nicht. Ist mir zuviel – «
    »Kackruß, katholischer?«
    Ich lachte. Diese Worte von diesen Lippen! Ich lachte und verschluckte mich an einem Wurstbrocken. Woher hatte sie nur diese Worte?
    Als ich mich endlich beruhigt hatte, erzählte sie mir, was ihr die Bücher bedeuteten, wie sie ihr Halt gaben in diesen Jahren. Sie konnte gar nicht mehr ablassen, an mich auszuteilen, was sie an Überfülle besaß, was sie vor Neugierde auf das Lesen, auf das Leben überlaufen ließ. Ich erschrak über ihre Formulierungen. Ebensogut hätten sie von mir sein können, von mir, als ich in ihrem Alter war. Es war mehr als nur eine Reminiszenz an das Internat. Das war nicht das fremde Kind, das anzutreffen ich erwartet hatte. Marya war nicht fremd. Und nicht Kind.
    Dann hielt sie abrupt inne und stand auf.
    »Banane?« fragte sie. Sie stellte eine ganze Schale voller Südfrüchte vor mir auf den Tisch und nahm wieder Platz.
    »Die gehören Lesja, oder?«
    »Na und?«
    Marya hatte eine Banane geschält, biß ab, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Mir fielen an ihrer Kehle rechts und links der Mitte zwei deutlich ausgeprägte Muttermale auf, die einander gegenüberlagen, sich belauerten. Jedes Mal, wenn sie schluckte, hoben und senkten sie sich.
    »Hast du etwa Angst vor ihr, Wasja?«
    »Du nicht?«
    »Vor ›Ali‹?«
    Marya lachte.
    »Die mich, bevor sie ausgeht, ungefähr neunzehnmal fragt, ob die Farben zusammenpassen, ob schwarzer Lippenstift ihr ebenso gut steht wie Tanja, ob ihr Rock kurz genug ist? Vor der soll ich Angst haben?«
    Du siehst nicht, wie sie wirklich ist, dachte ich, du siehst, was du sehen möchtest. Sie ist wie die Baba Jaga. Sie blendet dich. Und sie wird dich so gut wie mich fressen.
    Manja hatte wohl auch von mir ein Lachen erwartet. Ich schwieg. Sie begann mich zu fokussieren. Eine mimischeHandlung. Ein Etwas, das ich auch von Vater und mir kenne, das in der Familie Verbreitung gefunden hat. Ich weiß nicht, ob es von unserer latenten Kurzsichtigkeit herrührt, die aber niemals dazu geführt hat, daß irgendjemand eine Brille benutzte, man übte immer nur diese kleine mimische Handlung: in Momenten höchster Konzentration, Momenten des Auf-dem-Sprung-Seins, spitzen wir förmlich die Augen, verengen sie zu schmalen Schlitzen, öffnen sie und verengen sie wieder, die Pupillen werden groß, der Blick bekommt etwas Raubtierhaftes. Bei Marya wurde es dadurch abgemildert, daß der Schnitt ihres linken Auges ein wenig nach unten,

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