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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Mutter.
    Vorsichtig öffnete Oleg die Augen. Das Zimmer war dunkel. Die Kerze war von dem Luftdruck ausgeblasen worden. Doch die Bedrohung war vorbei.
    »Soll ich weiterlesen?«
    »Nein«, erwiderte Oleg, »jetzt nicht. Morgen.«
    »Wollen wir dann versuchen zu schlafen?«
    »Ja«, sagte Oleg. Er schlug die Decke zurück und ging zu seinem Bett. Er spürte den Kalk unter den Fußsohlen. Als Oleg im Bett lag, wollte der Schlaf nicht kommen. Nadja war tot, doch der schlimmste Schmerz darüber war vorbei. Morgen würde er weiter in ihrem Tagebuch lesen – ein Stück von Nadja, das ihm immer blieb. Morgen würde er auch erfahren, wo diese letzte Bombe gefallen war.
    Undeutlich hörte Oleg in der Ferne Stimmen. Die Miliz,die Krankenwagen, Hilfsposten, Feuerwehr und Aufräumgruppen hatten auch in dieser Nacht wieder reichlich zu tun.

14
    Oleg saß am Tisch vor dem Fenster und las in Nadjas Tagebuch. Seine Mutter hielt ihre Mittagsruhe und war eingeschlafen.
    Oleg wurde traurig, wenn er die Sätze las, die Nadja in ihrer fahrigen Handschrift aufgezeichnet hatte. Manchmal unordentlich, dann plötzlich sehr exakt, wenn sie eine neue Seite angefangen hatte. Nach ein paar Zeilen war es wieder vorbei mit der Schönschrift. Dann war an der Schrift deutlich zu sehen, dass sie sich beeilt hatte.
    Welch ein Glück, dass er Nadja so gut gekannt hatte, denn er begriff sofort alles, was sie geschrieben und sich dabei gedacht hatte. Er wusste auch genau, was sie mit ihren kurzen, hastigen Sätzen meinte.
    »Ich habe Angst. Vom Kopf bis zu den Knöcheln. Nur meine Füße sind tapfer. Sie laufen immer weiter, überallhin. Heute kam der große Wagen und holte Iwans Mutter und die kleine Nina ab, auch Wera Polowa, die schon vorgestern gestorben ist. Ich wagte nicht hinzusehen. Ich muss noch lernen, tapfer zu sterben, wenn ich auch lieber lernen würde, fröhlich zu leben.
    Ob überhaupt jemand weiß, wofür er lebt? Hier in Lenin gradweiß allerdings jeder, wofür erkämpft, hungert, stirbt – für die Freiheit! Aber man lebt doch nicht allein für die Freiheit!
    Komisch, dass man nicht weiß, wofür man lebt, dass man aber weiß, wofür man stirbt.
    Ich möchte Schauspielerin werden, um die Menschen fröhlich und glücklich zu machen. Ich glaube nicht, dass ich es werde. Wer wollte sich denn so ein kleines, mageres, schmächtiges Kind wie mich ansehen?
    Es regnet schon den ganzen Tag. Der Himmel weint, aber in Leningrad gibt es keine Tränen mehr. Alle sind so tapfer. Es ist ein Elend, dass nur ich feige bin.«
    Oleg warf einen Blick nach draußen. Nadja war nicht feige gewesen.
    Auf der andern Straßenseite schlurfte Baba * Olescha über den Trampelpfad zwischen den Schneehaufen. Sie hatte Wasser geholt, zwei kleine, am oberen Rand zugefrorene Eimer voll. Sonderbar, dass sie, die so alt war, noch lebte, während Nadja so jung gestorben war. Oleg hatte Baba Olescha vor einem guten halben Jahr zu seiner Mutter sagen hören: »Junge Frau, ich habe meine Zeit gehabt. Für mich ist das Leben ein Film, den ich mir zum dritten Mal ansehe.« Und dennoch stapfte sie da drüben immer noch durch den Schnee.
    Olegs Mutter murmelte etwas im Schlaf. Das Bettzeug raschelte – sie hatte sich stöhnend umgedreht. Aufs Neue beschlich Oleg das bedrückende Gefühl, dass auch seine Mutter sterben könnte. Sie hatte sich heute Morgen sehr zusammengenommen, aber Oleg hatte doch deutlich gemerkt, dass sie sich gar nicht wohlfühlte. Was sollte er anfangen, wenn seine Mutter nicht mehr da war?
    Baba Olescha hatte ihr Haus erreicht. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie die Stufen zur Haustür hinauf. Ob sie auch bei jeder Stufe eine Frage stellte? Oder war sie den Antworten bereits entgegengewachsen, weil sie so alt war? Oleg las weiter:
    »Wie groß ist der Abstand vom Leben bis zum Tod? Heute ging ein Mann vor mir her. Plötzlich blieb er stehen und sank in sich zusammen. Ich rannte auf ihn zu, um ihm zu helfen. Aber er war schon tot. Man lebt, man läuft, man denkt, man schaut, man atmet – und plötzlich, ›knacks!‹, ist es zu Ende. Was denkt ein Mensch wohl in seiner letzten Minute?
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann alles plötzlich aus ist. Vielleicht gibt es einen Himmel, wo man Antwort auf alle Fragen bekommt. Wenn man tot ist, weiß man vielleicht, warum und wieso. Ich denke in letzter Zeit oft an das Sterben. Mein Vater liegt jetzt im Bett. Schon ein paar Tage. Wenn er nicht so furchtbar bedrückt aussähe, wäre es herrlich, dass er

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