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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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den ganzen Tag zu Hause ist.«
    Oleg schaute zum Bett seiner Mutter hinüber. Hatte Nadja es kommen sehen, dass ihr Vater sterben würde? Im Flur klappte der Briefkastendeckel. Oleg blickte verwirrt auf. Seit Wochen war keine Post gekommen. Er stand auf und ging auf Zehenspitzen zur Wohnungstür. Auf dem Fußabtreter lag ein gelber Umschlag. Verwundert hob Oleg ihn auf. Der Brief war an seine Mutter adressiert. Links oben stand in schwarzen Druckbuchstaben: Kinderausschuss, Leningrad .
    »Lieber Himmel!« Oleg erschrak. War dies schon die Aufforderung zur Evakuierung? Sollte er sich morgen oder übermorgen melden müssen? In den letzten Tagen hatte es kräftig gefroren. Fuhren die Wagen wieder über den See? Aber er würde nicht dabei sein! Er wollte nicht. Mit pochendem Herzen blickte Oleg auf den Umschlag. Ob er ihn versteckte? Wegwarf?
    »Oleg, was machst du?«
    »Ich . . .« Oleg wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Komm doch mal!«
    Er stopfte den Umschlag rasch in die Tasche. Langsam ging er ins Zimmer und hoffte, dass seine Mutter ihm nichts anmerkte.
    Seine Mutter hatte sich ein wenig aufgerichtet. Mit fiebrigen Augen sah sie ihn an. »Was war?«
    Gelassen holte Oleg den Brief aus der Tasche. Plötzlich erschien es ihm sinnlos, etwas vor seiner Mutter zu verbergen, vor allem, wenn sie ihn so forschend ansah. Er reichte ihr den Brief.
    »He!«, sagte Mutter, riss den Umschlag auf und warf einen kurzen Blick auf die grüne Karte, die herausfiel. War es die Mitteilung, dass er evakuiert werden sollte? »Oleg!« Mutter sah ihn erfreut an. »Eine Einladung zu einer Theateraufführung!«
    »Eine Theateraufführung?« Es klang so unglaubwürdig, dass er es noch einmal wiederholte: »Eine Theateraufführung?«
    Seine Mutter nickte. »Anlässlich des Weihnachtsfestes wird für die Kinder in Leningrad ein Theaterstück im Großen Schauspielhaus aufgeführt.«
    »Wann denn?« Oleg konnte es immer noch nicht glauben. Etwas an der Karte war ihm nicht geheuer.
    »Übermorgen. Um drei Uhr nachmittags.« Seine Mutter studierte die Karte noch einmal genau. »Es dauert bis abends sieben Uhr. Vielleicht . . .« Sie zögerte.
    »Vielleicht was?« Irgendetwas stimmte doch nicht.
    »Vielleicht bekommt ihr dort eine Mahlzeit«, sagte seine Mutter leise.
    »Wieso?«
    »Weil es erst um sieben Uhr zu Ende ist.«
    Oleg erwiderte nichts darauf. Er wusste nicht recht, was er von dieser sonderbaren Einladung halten sollte. Seine Mutter war in die Kissen zurückgesunken und betrachtete wieder die Karte. Was war damit? Plötzlich ging ihm auf, was da geschehen sollte.
    Kein Kind aus Leningrad war bereit, sich evakuieren zu lassen. War das Theaterstück ein Lockmittel, um sie alle zusammenzukriegen? Sollten sie aus dem Theater gleich in die Lastwagen gebracht werden?
    Wirre Gedanken schossen Oleg durch den Kopf. Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm alles. Wenn jeder Lastwagen zwanzig Kinder mitnehmen konnte und hundert Wagen fuhren, dann gab es insgesamt zweitausend. Und zweitausend Plätze waren auch im Großen Schauspielhaus.
    Die Zeit stimmte auch, denn die Laster fuhren nachts. Plötzlich bemerkte er, dass seine Mutter ihn aufmerksam ansah.
    »Findest du es nicht schön?«
    »Nein«, erwiderte Oleg ehrlich. »Ich glaube, ich werde nicht hingehen.«
    »Aber ich will, dass du hingehst. Vielleicht bekommst du dort eine gute Mahlzeit. Und es ist doch schön, mal mit andern Kindern zusammen zu sein.«
    Oleg schüttelte den Kopf.
    »Warum nicht?«
    Oleg zuckte die Achseln. Er wagte seine Mutter nicht mehr anzusehen. Ob sie wusste, dass diese Karte eine Einberufung war? Wollte sie, dass er ohne Aufregung und ohne Weinen abfuhr? Und warum? Wieder schossen ihm bedrückende Gedanken durch den Kopf, während er sich unruhig hin und her drehte. Seine Mutter wollte ihn weghaben. Dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben: Seine Mutter wusste, dass sie sterben würde, genau wie Weras Mutter und die Mütter von Iwan und Gregori es gewusst hatten. Ob sie allein sterben wollte? Ob sie ihn weghaben wollte vor dieser Zeit, um es nicht schwerer zu machen, als es jetzt schon war?
    »Junge, Oleg, was ist denn mit dir?«
    »Ich gehe nicht hin«, erwiderte Oleg.
    »Du gehst wohl hin!«, sagte seine Mutter. »Es ist so wichtig, dass du mal etwas Ordentliches zu essen bekommst!«
    »Ich will nicht«, beharrte Oleg trotzig. »Wirklich nicht.«
    »Aber du gehst hin!«, sagte seine Mutter nun ganz bestimmt. Langsam ging Oleg zu dem Tisch,

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