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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Großmutter

15
    »Du gehst hin!«, sagte Olegs Mutter. Ihre Stimme klang fast hart. Mit einem Gefühl hoffnungsloser Ohnmacht schaute Oleg nach der Uhr auf dem Büfett. Es war zwei Uhr. In einer Stunde sollte die Vorstellung beginnen. Er hatte noch eine Viertelstunde, um sich zu widersetzen.
    »Du musst gehen!«, sagte seine Mutter. »Du darfst dir die Aussicht auf eine gute Mahlzeit nicht entgehen lassen.«
    »Und woher weißt du, dass wir was zu essen bekommen?«
    »Ich denke es mir«, sagte seine Mutter. »Onkel Wanja wird alles nur Mögliche getan haben, um das zustande zu bringen.«
    »Ich will aber nicht!«, murmelte Oleg hartnäckig. Er wagte nicht, seine Mutter anzusehen. Wenn sie Tränen in den Augen hatte, wurde er hilflos, das wusste er vorher. Es war das dritte Mal, dass sie sich wegen der Theateraufführung stritten. Oleg wollte sich bis zum Äußersten wehren, denn der Gang ins Theater würde Abschied bedeuten: den Abschied von Leningrad und den Abschied von seiner Mutter. Er wollte nicht evakuiert werden. Wenn es so viel Kummer, so viel Angst, so viel Unsicherheit gab, musste man zusammenbleiben. Das war doch der letzte Halt. Auch Nadja hatte so etwas in ihr Tagebuch geschrieben.
    Aber seine Mutter begriff das nicht. Seine Mutter wollte, dass er bei Tante Olga Petrowna im fernenSwerdlowsk ein gutes Leben bekam. Er wollte nicht hin! Erledigt!
    Seine Mutter verstand das nicht. Wie konnte er es ihr erklären?
    »Wirklich, mein Junge, es wird dir nicht leidtun!« Die Stimme seiner Mutter klang sanft und bittend. Dagegen anzugehen und ihr Kummer zu bereiten war viel schlimmer.
    »Und du?«
    »Ich kann doch gut mal einen Nachmittag allein bleiben.«
    Unschlüssig sah Oleg seine Mutter an. Sie wirkte blass, hilflos und sehr verletzbar. Abermals beschlich ihn das jämmerliche Gefühl, dass sie ihn weghaben wollte, dass die Zeit drängte, dass sie allein sterben wollte.
    »Komm mal her!«
    Es gab keinen Ausweg. Langsam ging Oleg an ihr Bett.
    »Hier ist die Karte. Verlier sie nicht! Steck sie in die Tasche!«
    Oleg fasste nach der Karte.
    »Und nimm die Taschenlampe mit! Um sieben ist es schon stockfinster.«
    Oleg nickte. Die Art, wie seine Mutter ihn ansah, machte jeden Widerstand unmöglich. Er ging zum Schrank und nahm die Taschenlampe heraus. In Gedanken drückte er ein paarmal den Griff hinein, der den kleinen Dynamo betätigte. Ein schwacher Lichtstrahl fiel dabei auf den Fußboden.
    Sollte er hingehen? Sollte er so tun, als ob er ginge?Er konnte doch vor dem Theater warten, bis alles vorüber war, und dann nach Hause gehen. Oder wollte seine Mutter wirklich lieber ohne ihn sterben?
    Oleg setzte seine Pelzmütze auf. Er spürte die Pistole seines Vaters in der Manteltasche. Langsam ging er zum Bett, wagte seine Mutter jedoch noch immer nicht anzusehen. Er gab ihr einen Kuss.
    »Auf Wiedersehen, Mutter.«
    »Auf Wiedersehen, mein Junge. Es wird dir bestimmt gefallen.«
    Meinte sie, dass es ihm bei Olga Petrowna in Swerdlowsk gefallen würde? War dies der Abschied für immer? Oleg wagte nicht hinzusehen, ob seine Mutter jetzt vielleicht mit den Tränen kämpfte. Wenn es ein Abschied für immer war, würde er es bestimmt auf ihrem Gesicht erkennen. Aber er wollte nicht hinschauen, er wagte es einfach nicht. Langsam ging er aus dem Zimmer.
    Nadja hätte jetzt wieder gesagt, dass der Himmel ungewaschen über Leningrad hinge, dachte Oleg. Über den schmalen Trampelpfad zwischen den Schneehaufen schlenderte er zum Großen Schauspielhaus. Von der Newa her wehte ein kalter Wind in die Stadt. Auf der Newa-Insel in der Ferne ragte der Turm der Sankt-Peter-und-Pauls-Kathedrale über die beschneiten Dächer. Dort waren die Zaren und Zarinnen des früheren Russland begraben. In prächtigem Marmor lagen sie da für alle Zeiten: Peter der Große, Katharina die Große, die Zaren mit dem Namen Paul und die mit dem Namen Alexander. Wo Nadja begraben war,würde Oleg wohl niemals erfahren. Es schmerzte ihn, an die großen Massengräber zu denken, die man notgedrungen hinter dem neuen Stadtviertel angelegt hatte. Oleg bog um eine Ecke, ging durch eine schmale Straße, überquerte einen Platz und schlenderte an einem der Kanäle entlang zum Zentrum der Stadt. Sollte er zum Theater gehen? Oder sollte er weiter umherstreifen, bis es sieben Uhr war und er nach Hause gehen konnte?
    Langsam stapfte er durch das verschneite Leningrad. Er fror und hatte Hunger.
    Dem Schauspielhaus schräg gegenüber war Oleg stehen geblieben. Er

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