Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Verbissen kämpfte er gegen die Tränen.
»Oleg!«
Und plötzlich schluchzte er laut. Er hörte Geräusche, leise Schritte und fühlte die kühle Hand seiner Mutter auf der Stirn.
»Was ist, Oleg?«
Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht darüber reden. Noch nicht. Seine Mutter beugte sich über ihn, zog ihn an sich.
»Sag es mir!«, sagte sie leise. »Es ist leichter, wenn du mir alles erzählst.«
Als ob sich der Kummer von Monaten einen Ausweg suchte, weinte sich Oleg bei seiner Mutter aus. »Nadja ist tot.«
Einen Augenblick blieb es still. Oleg spürte, wie sich die Hand seiner Mutter auf seinem Rücken zusammenzog, als ob sie einen Krampf bekäme.
»Mein armer Junge.« Ihre Stimme klang tröstend. »Die kleine Nadja.«
»Warum gerade sie?«, fragte Oleg. Die Hand seiner Mutter lag nun wieder still und entspannt auf seinem Rücken.
»So etwas geschieht, Oleg. Wir Menschen wollen immer wissen, warum. Wir dürfen nicht nach dem Warum fragen, sondern müssen weiterleben, dann wachsen wir von selbst einem Teil der Antwort zu.« »Wie denn?«
»Indem wir Dinge tun, die unser Herz und unsere Hände zu tun finden. Für uns, für Russland, für die ganze Welt.«
Seine Mutter fröstelte. Es war eisig kalt im Zimmer, denn der Ofen hatte an diesem Tag nur wenige Minuten gebrannt.
»Geh ins Bett!«, sagte Oleg. »Du erkältest dich.«
Er spürte, wie die Hand seiner Mutter ihm durchs Haar fuhr. Dann stand sie auf. Doch sie ging nicht zu ihrem Bett. Wie eine undeutliche, helle Erscheinung sah er sie sich auf das Büfett zubewegen. Oleg hörte, wie ihre Hände suchend an den Dingen entlangtasteten, die dort standen. Die Streichhölzer! Er hörte die Hölzer in der Schachtel scheppern. Streichhölzer und noch etwas. Danach erst ging seine Mutter zum Bett. Sie stellte etwas auf den Nachttisch und riss ein Streichholz an.
Endlich sah Oleg, wonach seine Mutter gegriffen hatte. Auf dem Tisch neben ihrem Bett stand der silberne Leuchter mit ihrer letzten Kerze, die seine Mutter für Weihnachten hatte aufbewahren wollen. Daneben lag das Heft.
Mutter steckte die Kerze an und ging ins Bett.
»Was tust du?«, fragte Oleg erstaunt.
»Komm zu mir«, sagte seine Mutter. »Dann lesen wir gemeinsam Nadjas Tagebuch.«
Zögernd kam Oleg zu dem großen Bett. Er wollte nicht, dass seine Mutter aus dem Tagebuch vorlas. Die Wunde war noch zu frisch.
»Wir können uns nicht vor dem verstecken, was geschieht«, sagte seine Mutter, als Oleg neben ihr lag – auf dem Platz seines Vaters.
In diesem Augenblick begannen die Sirenen zu heulen.
Schon vor Monaten hatte Olegs Mutter mit ihm besprochen, dass sie bei einem Alarm in der Nacht nicht in den Luftschutzkeller gehen wollten.
»Es hat keinen Sinn. Was geschehen soll, geschieht doch«, hatte seine Mutter gesagt. Seitdem waren sie im Bett geblieben, wenn die Sirenen nachts heulten. Die ersten Male hatte es Oleg schrecklich gefunden, im Bett liegend und vollkommen ohnmächtig den Lärm des Angriffs zu erwarten: erst die Sirenen, dann die Stille – nur vom Geräusch hastender Schritte auf der Straße und einem einzelnen Ruf unterbrochen, der eine Frau oder ein Kind zur Eile mahnte.
Dann näherte sich allmählich das Unheil verkündende Brummen der Flugzeuge und die Flakgeschütze fingen heftig an zu schießen; sie erinnerten an tolle Hunde, die wild den Mond anbellten. Schließlich kam unabwendbar das erschütternde Dröhnen einschlagender Bomben. An den Geräuschen konnte man bisweilen hören, welches Viertel getroffen wurde. Seltene Male kam die Gewalt einer Explosion angsterregend nahe.Dann zitterte das Haus und man selbst zitterte im Bett. Man hielt die Luft an und wartete, ob die nächste Bombe ein Volltreffer sein würde.
Seine Mutter schien von einem solchen Bombardement gar nicht beeinflusst zu werden. Sie sprach ruhig weiter, schwieg höchstens einmal, wenn der Lärm zu heftig wurde, aber das war auch alles. Ihre Stimme zitterte nie.
»Das war nahe«, sagte sie dann – oder: »Sie bombardieren die Marinewerft«, oder auch: »Denk mit daran, dass ich Tanja morgen ihre Bücher zurückgebe!« Und das, während ringsumher Bomben fielen, Geschütze dröhnten und zwischendurch in der Ferne Schreie erklangen.
Allmählich hatte sich auch Oleg an die nächtlichen Luftangriffe gewöhnt. Man konnte zittern und beben und in seiner Todesangst in die dunkelste Ecke des Zimmers kriechen, man konnte beten oder heulen, es half alles nichts.
Auch jetzt, während die Sirenen
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