Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
den Flur. Verständnislos schaute er sich um. Dann wurde er mitgezogen.Irina Akimowa zeigte auf die Tür. Das Entsetzen auf ihrem Gesicht machte jede Erklärung überflüssig. Oleg spürte sein Herz ungestüm pochen und der Atem stockte ihm in der Kehle. Er wollte nichts sehen und sich auch nicht vorstellen, was hinter dieser verschlossenen Tür geschehen sein konnte. An gar nichts denken!
»Nadja«, flüsterte er mechanisch. Seine Blicke glitten die Treppenstufen hinunter. Nadja, Nadja, Nadja. Im Geist sah er sie springen und hörte sie ihre verrückten Fragen stellen.
Hinter ihm öffnete Juri Akimow die Tür. Oleg sah in dem kleinen Flur Nadjas Jacke hängen. Serjoschas Schuhe standen unter einem Tischchen.
Juri Akimow nickte seiner Frau zu. Irina schob ihn zur Seite und ging hinein.
»Barmherziger Gott!«
Juri beugte den Kopf und schlug ein Kreuz.
Wie festgenagelt stand Oleg vor der Wohnungstür. Am liebsten wäre er weggerannt, aber er spürte, dass er das Nadja nicht antun durfte.
Nadja! Das konnte doch nicht sein! Es durfte einfach nicht sein. Plötzlich dachte Oleg an seinen Traum, in dem sie Abschied genommen hatten. Nun wusste er genau, was geschehen war.
Irina Akimowa kam langsam aus dem Zimmer zurück. In der Hand hielt sie ein dickes blaues Heft. Sie hob es hoch. »Sie hat noch darin geschrieben.«
Sie legte das Heft auf den Tisch, unter dem die großen Schuhe von Serjoscha standen.
Es war Nadjas Tagebuch.
Wie lange er an der Treppe gestanden hatte, wusste Oleg nicht. Leute liefen um ihn herum. Türen öffneten und schlossen sich. Eine kleine alte Frau schlurfte über den Flur. Sie trug eine Ikone mit dem Bild des heiligen Sergej. Einen Kerzenstumpf hielt sie in der Hand. Wollte sie den für Nadja und ihre Mutter anzünden? ›Weshalb all diese Betriebsamkeit‹, dachte Oleg. ›Wenn man tot ist, ist man doch nicht mehr da. Weder Ikonen noch Kerzen können daran etwas ändern.‹ Oleg wagte nicht hineinzugehen. Doch konnte er sich auch nicht entschließen wegzugehen. Es war, als ob etwas fehle, wenn er auch nicht wusste, was das sein könnte.
Vorsichtig spähte er nach der Tür, durch die die Frauen ein und aus gingen. Dann sah er auf dem kleinen Tisch Nadjas Tagebuch liegen. Niemand achtete auf ihn, als er langsam auf die Tür zuging. Flüstern, leise Stimmen und Weinen drangen aus dem Zimmer. Als er Serjoschas große Schuhe sah, schossen ihm Tränen in die Augen. Wie durch einen Nebel sah er die Buchstaben auf dem blauen Heft: Tagebuch von Nadja Morosowa.
Niemand sah, dass er hastig nach dem Heft griff und es unter seinem Mantel verbarg. So rasch er konnte, lief er ohne aufzufallen über den Flur und die Treppe hinunter. Bei jeder Stufe gingen ihm Fragen durch den Kopf.
›Warum Nadja?‹
›Warum gerade Nadja?‹
›Warum hatte Onkel Wanja sie nicht gerettet?‹
›Mit wem kann ich nun noch über die Evakuierung nach Swerdlowsk sprechen?‹
Warum Nadja? Diese Frage kam ihm immer wieder. Das Tagebuch unter dem Mantel an sich gepresst, lief Oleg über den schmalen Trampelpfad zwischen den Schneehaufen nach Hause. Er warf einen Blick zum Himmel hinauf. Es würde kräftig frieren. Alle Wolken waren leer geschneit. Der Himmel war jetzt klar.
13
Zu Hause angekommen, hatte er seiner Mutter nichts erzählt. Er hatte es einfach nicht gekonnt. Als er Nadjas Tagebuch auf den Tisch legte, hatte seine Mutter gefragt: »Was ist das?«
»Ach, ein Heft.«
Krampfhaft hatte sich Oleg bemüht, nicht an Nadja, nicht an ihre Mutter und nicht an das Tagebuch zu denken. Er wollte vergessen, dass Nadjas Mantel und ihre Pelzmütze an der Garderobe gehangen und Serjoschas große Schnürschuhe unter dem kleinen Tisch gestanden hatten. Solange er herumlaufen und allerlei kleine Arbeiten hatte erledigen können, war ihm das einigermaßen gelungen.
Doch nun lag er im Bett. Nun kamen die Gedanken unabwendbar auf ihn zu. Ob er wollte oder nicht, er musste an Nadja denken, die in ihrem Tagebuchschreibend eingeschlafen war. Für immer. Oleg fühlte das Würgen in der Kehle immer stärker, fast erstickend. Es war ihm, als sähe er Nadja schreiben, einen Augenblick aufhören, weil sie so unendlich müde war, aufs Neue einige Worte aufzeichnen, bis sie schließlich beim letzten Wort stecken blieb.
Und dann fing Oleg an zu weinen. Er biss sich auf die Lippen, er biss in die Bettdecke, denn seine Mutter durfte es nicht hören. Dann schluchzte er auf . . . noch einmal . . .
»Oleg?«
Er konnte nicht antworten.
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