Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
abermals ertönten und wie Schreie der Angst aus dem verwundeten Herzen Leningrads aufstiegen, tat seine Mutter, als ob das die gewöhnlichste Sache der Welt wäre. Sie schlug das Tagebuch auf, wartete, bis es still geworden war, und begann vorzulesen. Als ob sie von früher erzählte, so ruhig und vertraut klang ihre Stimme.
    »Wie an jedem Tag musste ich auch heute wieder zur Garküche gehen. Wir bekamen gute Suppe, aber Vater wollte fast nichts davon essen. Die Hälfte seiner Portion gab er Serjoscha und mir. Mutter wurde böse. ›Du musst essen!‹, sagte sie. Doch mein Vater entgegnete, er habe keinen Hunger. Ich wusste, warum er nicht essen konnte. Ich hätte es lieber nicht gewusst. Am Montag oder Dienstag (an einem dieser beiden Tage, das spielt keine Rolle) kam Olegs Vater zu uns. Er fragte, ob mein Vater als Freiwilliger auf den Lastwagen mitfahren wolle, die über den Ladogasee Lebensmittel in die Stadt bringen. Mein Vater zögerte lange mit der Antwort. Dann sagte er leise: ›Das wage ich nicht, Aleksej Turjenkow. Ich will alles tun, aber diese Todesfahrten über den See wage ich nicht zu machen.‹
    Aleksej Turjenkow wurde nicht böse. Er ist ein feiner Mann. Er legte meinem Vater die Hand auf die Schulter und sagte: ›Nur ein mutiger Mann wagt es zu gestehen, dass er Angst hat.‹ Ich hätte ihn umarmen mögen, doch da schaute mich mein Vater an. Und ich sah in seinen Augen, dass er meinetwegen, Mamas und Serjoschas wegen nicht über den See fahren wollte. Er ist wirklich kein Feigling! Er ist nur anders als alle andern – genau wie ich. Doch als wir kurz darauf bei Tisch saßen, wollte er nicht essen.«
    Das monotone Dröhnen der Flugzeuge kam drohend und hoch aus dem Himmel langsam näher. Die Fliegerabwehrgeschütze in den Stellungen außerhalb der Stadt begannen zu poltern. Scheinwerferstrahlen glitten wie große weiße Schwäne über den Himmel. Nicht weit entfernt fing ein Maschinengewehr an zu rattern. Man wusste also, dass ein Flugzeug zum Sturzflug ansetzte . . . Oleg hielt den Atem an und wartete . . . Da kam schon die erste Explosion. Er erstarrte. Unwillkürlich hielt er sich an seiner Mutter fest, als ob deren schmale Schulter ihm Halt geben könnte. Die Mutter fasste nach seiner Hand, las jedoch weiter, als ob draußen nichts geschähe.
    »Heute musste ich sehr lachen – ich hab mit Oleg auf der Treppe gespielt – ein ganz idiotisches Spiel! Das Gute an Oleg ist, dass er niemals etwas blöd findet und dass er alle Spiele sofort begreift. Er ist der einzige Junge, den ich kenne, der behutsam redet. Die andern Jungen rufen und schreien einfach drauflos, doch Oleg weiß genau, dass Worte wehtun können.
    Wir haben uns gegenseitig ganz verrückte Fragen gestellt, und wenn der andere die Antwort wusste, durfte er eine Stufe herunterspringen.
    ›Weshalb ist der Himmel ungewaschen?‹
    ›Weil er verschlafen hat‹, sagte Oleg sofort.
    Und es stimmte sogar, denn die Sonne wollte den ganzen Tag nicht zum Vorschein kommen. So ging es dann weiter. Danach haben wir beide Briefe für die Miliz ausgetragen.«
    Die Explosionen folgten jetzt rasch aufeinander. Der Bombenangriff würde in einigen Minuten vorüber sein – wenn auch ein paar Minuten wie eine Ewigkeit erscheinen konnten.
    Olegs Mutter las weiter, aber er hörte nicht mehr als hin und wieder ein einzelnes Wort. Die Stadt dröhnte – als ob ein entsetzliches Unwetter genau über ihrer Straße losgebrochen wäre. Oleg schloss die Augen und sah im Geist die Bomben fallen. Wie viele mussten nun noch herunterkommen von dort oben, hoch vom Himmel, von den Flugzeugen hier auf die Stadt herunter. Plötzlich kroch Oleg vor Angst tief unter die Decke.
    Ein kurzer Augenblick der Stille folgte ganz unerwartet – wunderbar und bedrohlich zugleich. Selbst dieStimme von Olegs Mutter stockte einen Augenblick. War der Angriff vorüber? Mächtig und Angst einflößend hing die schweigende Ungewissheit über dem Haus.
    Das Dröhnen verklang.
    Oleg entspannte sich. Er wollte gerade tief einatmen, als ein ohrenbetäubender Schlag das ganze Haus erschütterte. Großvaters Bild fiel von der Wand. Eine Vase tanzte auf dem Büfett und zerbrach auf dem Boden in zahllose Scherben. Messer und Gabeln klirrten in der Schublade. Von der Decke rieselte Kalk auf den Fußboden. Im jähen Selbsterhaltungstrieb presste sich Oleg an seine Mutter. Endlich wurde es still. Nur in der Ferne, außerhalb der Stadt, wurde noch geschossen.
    »Das war sehr nahe«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher