Oliver Hell - Das zweite Kreuz
hielten sie den Deckel weiter hoch.
Denn was sie nun anstelle des Erwarteten sahen, trieb ihnen einen gruseligen Schauer über den Rücken.
In dem Sarg lag eine Mumie.
Still.
Gewickelt.
Die Krähe stieß einen lauten, klagenden Schrei aus. Sie startete von ihrem Grabkreuz und flog über die Köpfe der Polizisten hinweg. Hell und Gauernack duckten sich. Der Vogel schlug kräftig mit den Schwingen und landete sicher in einem Baum. Wieder schallte ein lauter, klagender Schrei über den Friedhof.
Hell richtete sich wieder auf.
Er hatte noch nie eine Mumie gesehen.
Eine Mumie, wie man sie aus Berichten über Ausgrabungen in Ägypten kannte, lag vor ihnen. Der Tote im Sarg war in Tücher gehüllt. Weiße Tücher, die im Laufe der Jahre etwas vergilbt waren.
Hell hielt wie in Trance seine Ecke des Sargdeckels fest. Hatte er mit Vielem gerechnet, hiermit nicht. Er ertappte sich dabei, wie er zweimal zwinkerte. Die Mumie, die Günther Adelberg sein sollte, blieb real.
Er sah, wie kunstgerecht die Tücher in vielen Lagen um den Leib gewickelt wurden. Die Arme waren an den Körper gelegt, die Beine mit den Tüchern eng zusammengebunden. Die Füße des Toten ragten merkwürdig weit hervor.
„ Das ist ja mal eine Überraschung“, sagte Dr. Beisiegel, die sich als Erste gefangen hatte, „Vielen Dank meine Herren, ich denke, sie können den Deckel jetzt absetzen.“
„ Wenn das ein normaler Beerdigungsunternehmer hinbekommen hat, einen Leichnam so zu umwickeln, dann gebe ich morgen am Tag meinen Job auf“, sagte Klauk kopfschüttelnd.
„ Aber es passt zum Beruf des Archäologen“, warf Wendt ein.
Hell und die anderen ließen den Sargdeckel auf Kommando von Gauernack auf den Boden neben den geöffneten Sarg gleiten.
„ Wir müssen herausbekommen, wer hier mitgearbeitet hat. Einer muss sich die Unterlagen in Olbrichs Büro vornehmen. Vielleicht haben wir Glück und es gibt nach so langer Zeit noch was Schriftliches.“
Hell tastete in seinen Jackettaschen nach einem Päckchen mit Taschentüchern. Er fand keines. Gauernack reichte ihm wortlos sein Päckchen. Hell nahm eines heraus und rieb sich den Rost des Sargdeckels von den Händen.
Die beiden Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten, kamen jetzt hinzu. Dr. Beisiegel wies sie an, den Leichnam vorsichtig aus dem Sarg zu heben und auf den Wagen zu legen.
Steif wie ein Brett war die Mumie. Einer der Männer fasste sie an den Schultern, der andere unter der Hüfte und den Beinen.
Hell sah den beiden Bediensteten zu, wie sie den Toten auf den Wagen luden, um ihn anschließend in den Dienstwagen der Gerichtsmedizin zu schieben.
Was eben noch skurril erschien, war nun bereits Bestandteil einer erweiterten Untersuchung. Hell nahm sich vor, den Morgen damit zu verbringen, jemanden zu finden, mit dem Adelberg in seiner Zeit als Archäologe zusammengearbeitet hatte. Womöglich bekam man aus dieser Richtung auch einen Hinweis, wer sich auf das Mumifizieren von Leichnamen verstand.
Als die Türen zuklappten, riss ihn das aus seinen Gedanken. Dr. Beisiegel, die schon eine Weile neben ihm stand, hatte er nicht wahrgenommen.
„ Warst Du gerade gedanklich in Ägypten, Oliver?“, fragte sie. Er fuhr zusammen.
„ Ja, so ähnlich. Was denkst Du, wer kann hier in Deutschland jemanden so präparieren, dass er diese Zeit scheinbar ohne Schaden übersteht?“
„ Sehr gute Frage. Es gibt sicher unter den Archäologen Spezialisten für solche Praktiken. Da würde ich mal ansetzen.“
„ Denkst Du, er ist mumifiziert? Und wenn ja, kann man dann herausfinden, ob er ermordet wurde?“ Hells Blick hatte etwas Flehendes.
„ Da kann ich dich beruhigen. Sollte er keines natürlichen Todes gestorben sein, dann kann ich dir das so detailliert beweisen, wie Du es haben willst.“
Auf Hells Gesicht verschwand für kurze Zeit die Anspannung. Stattdessen huschte ein kleines Lächeln von einem Mundwinkel zum anderen.
„ Sehr gut, Stephanie. Solche Aussagen liebe ich“, sagte er und drückte die Kollegin kurz am Arm.
Die Krähe auf dem Baum wartete, bis alle Fahrzeuge und Menschen den Friedhof verlassen hatten. Dann stimmte sie einen lauten Klagegesang an, der lange über den Hügel schallte.
*
Keiner der auf dem Friedhof anwesenden Personen hatte ein Auge auf die Fotografen geworfen. So entging den Beamten nicht nur der Unmut der Fotografen, sondern auch eine Person, die sich zwischen die Reporter gemischt hatte. Er trug
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