Oliver Hell - Das zweite Kreuz
der Zellophan-Hülle und schloss den Beutel mit dem Inhalt wieder. Dann legte sie das Album vor sich auf den Tisch.
„ Vielen Dank, Frau Adelberg. Das hilft uns sicher sehr. Ich möchte Ihnen noch versichern, dass wir zu solchen Maßnahmen nur im äußersten Notfall greifen. Aber hier ist die Staatsanwaltschaft gezwungen zu handeln, wenn es um Mord geht.“
„ Ja, bitte gehen Sie jetzt. Bitte sehen Sie mir nach, dass ich Sie nicht zur Türe geleiten werde.“
Rosin stand auf, wünschte der Frau, die auf dem Sessel sitzen blieb, noch einen guten Tag und ging durch den dämmrigen Flur zur Eingangstüre. Auf dem Weg dorthin fiel ihr ein Herrenmantel auf, der an der Garderobe hing.
*
Vor dem Zimmer von Emilie Walters stand ein Rollwagen, auf dem die Medikamente für die Patienten auf dem Flur in kleinen Schälchen vorsortiert lagen. Der Mann ging auf dem Wagen zu, griff sich die Pillen, die in der Schale für Emilie Walters lagen, und legte zwei andere Pillen hinein. Noch bevor die Schwester aus dem Nebenzimmer herauskam, fiel die Türe zum Treppenhaus leise zu. Als die Schwester die Zimmertüre zum Zimmer von Emilie Walters öffnete, schlug das Metall des Schlüsselbundes hart gegen das Holz.
„ So, Frau Walters. Hier sind ihre Vitamine für heute. Wir wollen doch, dass sie bald wieder zu Kräften kommen.“
Diesen Satz sagte sie jeden Morgen um dieselbe Zeit. Sie wusste nicht, ob diese Patientin sie überhaupt hörte. Sie saß apathisch auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster.
Jeden Morgen.
Bisher.
Auch heute.
Ohne zu zögern nahm sie die Pillen mit einem großen Schluck Wasser.
„ So, das war doch gar nicht schlimm, sehen Sie“, sagte die Schwester, als sie schon beinahe wieder aus dem Zimmer war.
Emilie Walters schluckte jeden Tag ihre Medizin. Dann saß sie wieder da und schaute aus dem Fenster. Heute dauerte es nicht lange, bis ihre Lider zu flackern begannen. Dann verdrehte sie ihre Augäpfel und sackte langsam zur Seite. Mit weit aufgerissenen Augen lag sie auf ihrem Bett.
*
Hell saß im Büro und rekapitulierte den Fall. Zwischendrin biss er mechanisch in ein Croissant, was er sich unterwegs gekauft hatte. Die Blätterteigkrümel sammelten sich auf seiner Hose. Er bemerkte es nicht. Er war zu tief in seinen Gedanken versunken. Viele Fälle hatten ein ähnliches Strickmuster, nahmen einen ähnlichen Verlauf. Dieser Fall nicht. Das erste Mal in seiner beinahe dreißigjährigen Karriere als Kriminalpolizist hatte er es mit einer Mumie zu tun. Er gab in die Suchmaske die Begriffe Archäologie und Bonn ein. Sofort zeigten sich mehrere Ergebnisse. Zu viele.
Hell verdrehte die Augen und wischte sich über den Mund. Er griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein. Um sie besser erkennen zu können, lehnte er sich vor. Unter den vielen Möglichkeiten wählte er eine Nummer der Bonner Universität.
Es klingelte. Die Nummer gehörte zum Fachbereich Archäologie. Jemand nahm ab. Hell meldete sich. Eine Fachbereichssekretärin sprudelte ihr Sprüchlein herunter.
„ Hallo, mein Name ist Oliver Hell, ich bin Kriminalkommissar hier in Bonn und wir ermitteln in einem Fall, in dem wir auf den Namen Günther Adelberg gestoßen sind. Er war Archäologe und früher hier in Bonn tätig. Es wäre für uns wichtig, jemanden zu finden, der vor zwanzig Jahren schon bei Ihnen gearbeitet hat. Können Sie mir da vielleicht helfen?“
Auf der anderen Seite herrschte Stille. Räuspern.
„ Ich glaube, da kann ich Ihnen nicht helfen. Tut mir leid. Unser Fachbereich ist nicht so alt. Aber vielleicht kann ihnen die Klassische Archäologie helfen oder die Vor – und Frühgeschichtliche Archäologie.“ Sie nannte ihm noch die Durchwahlnummern.
Hell bedankte sich. Zwischen seinen Augen bildete sich eine nachdenkliche Längsfalte. Er blickte auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zur Dienstbesprechung. Er blies die Backen auf und wählte die Nummer, die er auf ein Post It gekritzelt hatte.
Es brauchte noch mehrere Anrufe, bis er schließlich einen Namen vor sich auf dem nächsten Post It notiert hatte.
Name: Jakob Livré.
Beruf: Dekan des Fachbereiches für Vor – und Frühgeschichtliche Archäologie.
Als Hell gerade auf dem Weg in den Besprechungsraum war, vibrierte sein Handy in der Jacketttasche. Er schaute aufs Display. Dort stand noch immer Doktor Leck . Er hatte es schon länger ändern wollen, weil die förmliche Beschreibung nicht mehr zu ihrer momentanen Lebenssituation passte.
Er nahm das
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