Oliver - Peace of Mind
am
Fenster und sah hinaus. So wie damals. Und manchmal sah ich seine MT8 vor der
Tür parken. Ich wusste sofort, dass es seine war. Sie sah fast genauso aus wie
unser Modell, das wir zusammengebaut hatten. Ich sah dann zu meiner Vitrine, sah
meine kleine rote Vespa an.
Manchmal sah ich ihn wegfahren. Dann sah ich ihn gar nicht mehr.
Woche um Woche lauschte ich, sein Motorrad zu hören. Oder ihn, wenn er
sich mit jemandem vom Fenster aus unterhielt. Nichts!
Eines Nachmittags traf ich Betty. Es war direkt vor meinem Haus. Ich
wollte mich gerade auf meine Vespa setzen.
„Wo ist Olli?“, fragte ich sie. „Ist er fortgezogen?“
Betty sah müde aus, das bemerkte ich erst jetzt. Und ihre Augen füllten
sich mit Tränen, als sie mir berichtete:
Unfall 1985
„Wir sind diesen Sommer manchmal an den Oortkatensee gefahren. Das ist
ein Baggersee am Elbdeich. Seit er das Motorrad hat, ist er oft nur dorthin
gefahren, weil er die langen Kurven auf der Deichstraße nutzen wollte. Da hat
er richtig aufgedreht. Er hat sie frisiert, weißt Du? Sie fuhr statt 80 Km h
inzwischen 120 Km h. Jedenfalls ist er mit 120 Km h auf das entgegenkommende
Fahrzeug aufgeprallt. Direkt auf den Holm, die Ecke neben der
Windschutzscheibe. Sein Helm war nicht geschlossen. Jedenfalls soll er
abgeflogen sein.“
Bis jetzt hatte Betty die Worte wie einen auswendig gelernten Text
herunter gerattert. Jetzt jedoch machte sie eine Pause. Man sah, dass das, was
jetzt folgte, mehr war, als sie ertragen konnte. Und Betty war hart im Nehmen.
„Sie haben einen Hubschrauber angefordert. Aber sie haben ihn
abgeschaltet, weil Olli in der Zwischenzeit schon einen Herzstillstand hatte.
Er hat so viel Blut verloren. Er ist umhergeirrt, bis er umgefallen ist.
Doch dann haben sie sein Herz wieder zum Schlagen gebracht. Der
Hubschrauber wurde wieder gestartet und er wurde im Krankenhaus notoperiert.“
Ich musste mich setzen. Betty reichte mir die Schachtel mit den Prince
Denmark und wir zogen schweigend an unseren Zigaretten. „Ist er tot?“ Ich hatte
Angst vor der Antwort.
Betty schüttelte den Kopf, nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und
schnipste sie dann fort.
Ängstlich sah ich sie an. „Er lag die letzten drei Monate im Koma“, sagte
sie. „Ich saß an seinem Krankenbett, wann immer ich neben der Arbeit dazu kam. Und
trotzdem: Letzte Woche ist er aufgewacht, und als ich den Gang zu seinem Zimmer
entlang ging, da bin ich an ihm vorbei gelaufen. Ich habe meinen eigenen Sohn
auf dem Flur nicht erkannt. Kannst Du Dir das vorstellen?“
Nein, das konnte ich nicht. „Er hatte sieben Schädelbrüche“, fuhr Betty
fort. „Noch nach diesen drei Monaten sah sein Kopf vollkommen misshandelt aus.
Hinzu kommt, dass er eine neue Stirnplatte und ein neues Jochbein, aus
irgendeinem Metall, einoperiert bekommen hat. Auch seine Nase sieht jetzt
anders aus. Seine Augen stehen irgendwie dichter zusammen jetzt. Und dazu ist
er so dünn, so unbeschreiblich dünn. Du weißt, wie groß er ist, und wie er
war!“ Es ist keine Frage.
„Wann kann ich ihn sehen?“, fragte ich zaghaft. Denn wir hatten uns lange
nicht gesehen und es sollte nicht wie ein Mitleidsbesuch wirken.
„In ein paar Wochen darf er nach Hause“, antwortete Betty. „Ich sag‘ Dir
Bescheid.“
Mit einem unguten Gefühl trat ich auf den Kickstarter meiner Vespa und
fuhr los. Ich musste nachdenken. Darüber, dass das Leben endlich ist und
darüber, dass man nicht ewig Zeit hat, sich zu entscheiden, was man eigentlich
will und wen man liebt. Aber ich war viel zu jung, um derart große Dinge ernsthaft
zu begreifen.
August 2012
Es ist endlich Sommer geworden. Es ist Wochenende und ich habe so viel an
Olli gedacht. Bei all dem Denken an ihn habe ich Sehnsucht nach Betty bekommen.
Jetzt doch! Erst war ich so wütend. Wie hatte sie zulassen können, dass so was
passiert. Wieso hat Ralf ihr nicht zur Seite gestanden? Wie kann man so sein?
Wie kann einem das eigene Kind so egal sein? Aber Betty hat gekämpft. Betty hat
immer gekämpft. Aber manche Kämpfe kann man nicht gewinnen. Sie hat ihr Bestes
gegeben. Sie ist Ollis Mutter. Sie ist noch da.
Ich schicke ihr eine SMS, ob ich kommen kann. Sie ruft umgehend zurück.
Sie ist in ihrem Gartenhaus. Zum Mittag will ich bei ihr sein. Leider wollen
heute alle aus der Stadt. Wie immer, wenn die Sonne scheint und Wochenende ist.
Ich muss nach nur zwei Ausfahrten wieder abfahren. Trotzdem stehe ich im
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