Oliver - Peace of Mind
vor meiner Nase hin und her. Das heißt, er drehte den ganzen
Arm, denn das Handgelenk war steif. Eine zehn Zentimeter lange Narbe zierte den
Unterarm.
„Ist Mist!“, sagte er. „Aber der wird schon wieder.“ Ich gab ihm recht:
„Hauptsache, du bist noch am Leben.“ Er sah mich forschend an. „Tatsächlich?
Ich dachte, das sei dir egal? Du wolltest mich doch nicht mehr.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich liebte ihn, aber es war immer
wieder zu extrem mit ihm. Wie sollte ich ihm das erklären. Ich nahm lieber sein
Gesicht in meine Hände und küsste ihn. Diese Sprache verstand er und zog mich umgehend
zu sich herunter aufs Kopfkissen.
Sommer 2012
Ich habe Betty und ein paar andere Leute vorsichtig gefragt, ob jemand
mit mir zu den Orten gehen würde, an denen Olli zuletzt gelebt hat. Betty kann
nicht. Wer will es ihr verdenken. Aber auch die anderen machen mir nur wage
Zusagen, wie: „Nach den Sommerferien, vielleicht.“ Oder „Ich muss mal sehen,
wann es passt. Ich sag‘ dir noch Bescheid.“
Lexa erklärt sich dagegen sofort dazu bereit und so setzen wir uns an
einem warmen Samstag Vormittag in mein Auto, um an Orte zu fahren, über die man
in unserer Gesellschaft nicht spricht. So muss ich vorher genau im Internet
recherchieren, wo sich die Gebäude befinden, die ich suche.
Lexa liest im Stadtplan und ich folgte ihren Anweisungen. „Die Zweite
rechts!“, ruft Lexa. „Gleich sind wir da.“ Ich beuge mich vor, um die
Straßennamen besser erkennen zu können und werde von einem Blitzlicht
getroffen. „So eine Scheiße!“, fluche ich. „Ich fahre doch gerade mal
vierzig!?“ „Schon“, sagt Lexa beiläufig. „Aber jeder Hamburger weiß doch, dass
man in dieser Straße hier nur dreißig fahren darf.“
Egal! Ich biege ab in die kleine Straße, die sogar noch Kopfstein gepflastert
ist. Im Rinnstein wachsen Grasbüschel und Pusteblumen. Alles sieht so idyllisch
aus. Am Ende der Straße steht ein grauer Betonklotz, mit nur wenigen
schmutzigen Fenstern darin. Das muss der Bunker sein.
Die ersten drei Meter hoch ist das Haus mit Graffitikunstwerken verziert,
der Rest ist betonfarben. Es gibt zwei Eingänge. Lexa und ich trauen uns erst
nicht und lungern vor dem Haus herum. Die dunkelblauen Eingangstüren sind nur
angelehnt. Beherzt stoße ich dann doch die linke Tür auf. Lexa folgt mir. Erstaunt
stellen wir fest, dass beide Eingänge in einen großen gekachelten Raum münden,
von dem aus Treppen nach links hoch, und Treppen nach rechts hochführen. So ein
Treppenhaus haben wir zuvor noch nie gesehen. Ich hätte gern gewusst, in
welcher Etage Olli gewohnt hat, oder wenigstens, ob sein Sarg die linken oder
die rechten Stufen hinunter getragen wurde.
Ich bin traurig. Ich stehe in diesem gekachelten Saal und fühle mich wie
in einer Kirche: einem Gotteshaus, einem Totenhaus. „Willst Du noch hoch
gehen?“ Lexa klingt wenig begeistert. Immerhin ist dies ein Obdachlosenhaus.
„Nein“, sage ich. „Ich traue mich auch nicht. Was ich hier sehe, reicht mir
schon. Ich wollte es gesehen haben.“
Wir gehen wieder hinaus in die wärmende Sonne und atmen erleichtert auf.
Wieder im Auto wollen wir zu Hamburgs bekanntestem Obdachlosenheim
aufbrechen. Leider stand im Stadtplan nicht, dass sich genau auf unserem Weg,
im Zentrum der Stadt eine Großbaustelle befindet. Es ist Mittag. Die Sonne
heizt das Auto auf. Endlich gelingt es mir, den Stau zu verlassen und auf
Insiderwegen zum Ziel zu gelangen.
Ich kenne mich aus hier. Ich bin hier zur Berufsschule gegangen. Dass
sich das Pik As in einer Nebengasse befindet, wusste ich nicht. Wie gesagt: ein
Ort über den man – wenn überhaupt – nur hinter vorgehaltener Hand spricht.
Eine Gasse, ein Hof, eine Treppe, die Eingangstür. Ich traue mich nicht.
Wir drehen um. Da ruft uns der Pförtner herbei.
Zögerlich machen wir kehrt. Der Pförtner ist jung, dynamisch, nicht
hässlich und freundlich. Er fragt uns nach unserem Anliegen, da wir Frauen sind
und dies ein Männerwohnheim ist. Ich will es erzählen. Aber als ich in einer
Ecke der Eingangshalle einen Obdachlosen, eingemummelt in eine graue Decke vom
Roten Kreuz, liegen sehe, schießen schon die Tränen ein.
Der Pförtner durchwühlt die Regale im Tresen und reicht mir ein
Taschentuch. Ich erzähle ihm, dass meine Jugendliebe hier gewohnt hat. Er darf
keine Auskunft geben. Aber er ist doch tot, schluchze ich. Aber er darf nicht.
Er überlegt einen
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