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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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giftig, daß ihn der arme Junge nach Monaten noch weder im Schlaf noch im Wachen vergessen konnte. Als der Wagen bereits weiterfuhr, konnte er sehen, wie der Bucklige, schäumend vor Wut, auf den Boden stampfte und sich in wirklicher oder geheuchelter Raserei die Haare raufte.
    »Ich bin ein Esel«, sagte der Doktor nach längerem Stillschweigen. »Hast du das schon gewußt, Oliver?«
    »Nein, Sir.«
    »Dann vergiß es fürs nächstemal nicht. Jawohl, ich bin ein Esel«, rief der Doktor wieder und immer wieder. »Selbst wenn es das richtige Haus war, was hätte ich als einzelner Mensch, falls die Verbrecher drin gewesen wären, gegen sie ausrichten können; und selbst wenn ich Beistand gehabt hätte, was hätte es mir genützt! Wie oft habe ich mich schon in Verlegenheit dadurch gebracht, daß ich der ersten Eingebung folgte.«
    Bald fand der alte Herr seine gute Laune wieder, und da er sah, daß Olivers Antworten auf seine Fragen immer klar, bestimmt und zusammenhängend und offenbar aufrichtig und wahrheitsgetreu gegeben wurden, nahm er sich fest vor, ihm künftighin in allen Dingen festen Glauben zu schenken.
    Oliver kannte den Namen der Straße, in der Mr. Brownlow sein Haus hatte, und sie konnten daher leicht ohne Aufenthalt hinfahren. Als der Wagen in die Straße einbog, schlug Oliver das Herz so heftig, daß er kaum atmen konnte.
    »Nun, mein Junge, welches Haus ist es?« fragte Doktor Losberne.
    »Dieses dort«, antwortete Oliver und zeigte eifrig über die Straße. »Das weiße Haus dort. Ach, bitte, fahren Sie, so schnell Sie können, ich glaube, ich muß sterben vor Aufregung.«
    »Nur Ruhe, nur Ruhe«, besänftigte ihn der gute Doktor und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst sie ja gleich sehen, und sie werden außer sich vor Freude sein, daß du wieder gesund und munter bist.«
    »O hoffentlich, hoffentlich«, rief Oliver. »Sie waren so gut zu mir; so freundlich und gut.«
    Der Wagen rasselte weiter. Dann hielten sie.
    Es war ein falsches Haus. »Also, die nächste Türe.« Wieder hielt der Wagen. Oliver blickte zu den Fenstern hinauf,und Tränen freudiger Erwartung liefen ihm übers Gesicht.
    Doch, o Gott, das weiße Haus war leer, und am Fenster hing ein Zettel, darauf standen die Worte: »Zu vermieten«.
    »Klopfen wir an der nächsten Türe«, sagte Doktor Losberne und nahm Olivers Arm in den seinen. »Wissen Sie, Mädchen, wohin Doktor Brownlow gezogen ist?«
    Das Dienstmädchen wußte keine Auskunft zu geben; machte sich aber erbötig, nachzufragen. Nach einer Weile kam sie zurück und sagte, Mr. Brownlow habe all seinen Besitz verkauft und sei nach Westindien gefahren, vor ungefähr sechs Wochen.
    Oliver schlug die Hände vors Gesicht und sank zusammen.
    »Ist seine Wirtschafterin auch mitgefahren?« forschte Doktor Losberne nach einer Pause.
    »Jawohl, Sir«, war die Antwort. »Der alte Herr, die Haushälterin und ein Herr, der mit Mr. Brownlow befreundet ist. Alle drei sind sie nach Westindien.«
    »Dann umkehren und heimfahren!« befahl Doktor Losberne dem Kutscher. »Und gib den Pferden nicht früher Rast, bevor wir aus dieser vermaledeiten Stadt heraus sind.«
    »Und der Buchhändler, Sir! Wollen wir nicht zu ihm?« fragte Oliver schüchtern. »Ich weiß, wo er wohnt. Ach, bitte, reden Sie doch mit ihm, Sir. Suchen wir ihn auf.«
    »Du armer Junge, für einen Tag haben wir gerade genug Enttäuschung erlebt«, sagte der Doktor. »Wenn wir zu dem Bücherladen gehen, werden wir bestimmt erfahren, daß der Mann gestorben ist, oder ihm das Haus niedergebrannt ist, oder daß er auf und davon ist. Nein, fahren wir wieder nach Hause.«
    Diese bittere Enttäuschung verursachte Oliver viel Kummerselbst mitten in seinem Glück, denn oft während seiner Krankheit hatte er sich voll Freude ausgemalt, was wohl Mr. Brownlow und Mrs. Bedwin sagen würden, und wie er ihnen erzählen wollte, wie oft er an sie gedacht und wie bitter ihm die Trennung von ihnen gewesen war. Dann: die Hoffnung, sich in ihren Augen zu rechtfertigen und ihnen zu erzählen, wie man ihn gewaltsam entführt hatte, und wie das Dankgefühl ihnen gegenüber ihn in so mancher schweren Stunde aufrecht erhalten habe. Der Gedanke, daß sie nun fern im Ausland seien und immer noch glauben mußten, er sei ein Betrüger oder Dieb, – ein Verdacht, den er vielleicht in diesem Leben niemals mehr würde entkräften können, – alles das lastete wie eine unerträgliche Qual auf ihm.
    Seine nunmehrigen Wohltäter blieben nach wie vor liebevoll

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