Oliver Twist
Bumble trug eine Laterne, in der kein Licht brannte, und ging ein paar Schritte voraus, wie um seiner Gattin die Bequemlichkeit zu bieten, in seine breiten Fußstapfen zutreten. So schritten sie in tiefem Stillschweigen dahin. Nur bisweilen sah sich Mr. Bumble um, ob seine Gattin ihm auch folge; dann beschleunigte er jedesmal seine Schritte.
Der Ort hatte einen ziemlich eindeutigen Charakter und war allgemein als verrufen bekannt, da dort ein lichtscheues Gesindel, das vor Raub und Mord niemals zurückscheute, zu wohnen pflegte. Er bestand aus einer Gruppe baufälliger Baracken, die teils aus losen Ziegeln gebaut, teils aus morschen Schiffstrümmern errichtet waren. Ein paar untaugliche Schiffe waren aus dem Schlamm herausgezogen und an einer kleinen Mauer befestigt, und hier und da lagen ein paar Ruder herum oder Tauwerk, das darauf schließen ließ, daß die Bewohner dieser Gegend irgendein Gewerbe trieben, das sich auf den Fluß bezog. Dicht an den Fluß hingebaut, stand ein großes Gebäude, das ehemals ein Fabrikhaus gewesen sein konnte, aber längst eine Ruine geworden war. Ratten, Fäulnis und Nässe hatten die Pfeiler, auf denen es ruhte, zermürbt, und ein Teil der Mauern war bereits ins Wasser versunken, und der über dem finstern Strom schwankende, überhängende Rest schien nur auf eine günstige Gelegenheit zu warten, ebenfalls hinabzustürzen. Hier angelangt, blieb das Ehepaar stehen. In der Ferne grollte bereits der Donner.
»Hier ungefähr muß es sein«, sagte Mr. Bumble und zog den Zettel zu Rate.
»Holla! Wer ist hier?« schrie eine Stimme von oben herunter.
Mr. Bumble hob das Haupt und erblickte einen Mann, der aus einer ihm bis zur Brust reichenden Türe im zweiten Stock herunterblickte.
»Warten Sie, ich komme gleich«, rief die Stimme, dann verschwand der Kopf, und die Türe schloß sich.
»Ist das der Mann?« fragte Mrs. Bumble.
Der Kirchspieldiener nickte.
»Dann schreib dir hinter die Ohren, was ich dir sage«, flüsterte die Alte. »Rede so wenig wie möglich, sonst geht die Sache schief.«
Mr. Bumble musterte die Ruine mit mißtrauischem Blick und wollte gerade seine Zweifel laut werden lassen, ob es auch rätlich sei, sich weiter in das Abenteuer einzulassen, da öffnete der Mann eine kleine Türe neben ihnen und winkte.
»So kommt doch herein!« rief er ungeduldig und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Ihr haltet mich ja auf.«
Mutig trat Mrs. Bumble ein.
Ihrem Gatten war sehr unbehaglich, und von jener Würde, die er sonst zur Schau zu tragen pflegte, war nichts mehr an ihm zu sehen.
»Teufel noch mal, warum stehen Sie denn da draußen in der Nässe herum?« murrte Monks.
»Wir – wir wollten uns nur ein bißchen abkühlen«, stotterte Bumble furchtsam.
»Abkühlen«, höhnte Monks. »Na, ich danke. Ist das die Frau, was?« fragte er abgerissen.
»Hm – ja – das ist die Frau«, stotterte Mr. Bumble, eingedenk des ihm von seiner Frau eingeschärften Rates.
»Sie meinen wahrscheinlich, eine Frau kann ein Geheimnis nicht bei sich behalten?« fragte Mrs. Bumble spitz und sah Monks scharf ins Gesicht.
»Nun ja, sie hüten’s so lange, bis es eben an den Tag kommt«, sagte Monks.
»Was meinen Sie damit?« fragte Mrs. Bumble keck.
»Eine Frau verschweigt vielleicht den Verlust ihres guten Namens. Aber andrerseits fürchte ich nicht, daß eine Frau ein Geheimnis verschweigt, wenn ihr der Galgen oder die Deportation droht. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nein«, versetzte die Armenhausmutter und verfärbte sich.
»Natürlich nicht«, höhnte Monks. Dann winkte er den beiden, ging ihnen voran durch die große, aber äußerst niedrige Stube und wollte eben eine steile Wendeltreppe in die Höhe steigen, als ein heller Blitzstrahl, dem ein furchtbarer Donner folgte, die Ruine bis in ihre Grundfugen erschütterte.
»Verflucht«, rief er und prallte zurück. »Wie das rollt und grollt. Man möchte sich fast verkriechen. Ich hasse den Donner.« Ein paar Sekunden blieb er stumm stehen, und die beiden sahen, daß sein Gesicht gräßlich verzerrt und totenblaß war.
»Dieser Zustand überkommt mich zuweilen«, entschuldigte sich Monks, als er es bemerkte, »gewöhnlich bei Donner und Blitz. Aber lassen Sie sich nicht anfechten dadurch, es ist schon wieder vorüber.«
Mit diesen Worten stieg er die Treppe empor, schloß eilig die Fensterladen in dem Raum, in den er sie führte, und holte eine Laterne herunter, die an einem Flaschenzug von dem mächtigen Deckenbalken
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