Oliver Twist
haben Sie vorläufig.«
Damit schob er dem ehemaligen Kirchspieldiener einpaar Sovereignstücke zu, sich dabei scheu nach der Türe umblickend. Mr. Bumble traute seinen Augen kaum, prüfte die Goldstücke und steckte sie ein.
»Denken Sie einmal ein paar Jahre zurück! Geht das? Letzten Winter warens gerade zwölf Jahre.«
»Eine lange Zeit«, seufzte Mr. Bumble. »Gut, ich denke bereits zurück.«
»Schauplatz: das Armenhaus.«
»Gut.«
»Zeit: Mitternacht.«
»Ja.«
»Ort: das elende Loch, in dem liederliche Dirnen den Kindern das Leben geben, das sie selber lassen müssen, damit die Gemeinde die Bälger großfüttert.«
»Sie meinen das Wöchnerinnenzimmer?« fragte Bumble.
»Ja. Damals wurde ein Knabe drin geboren.«
»Oh, viele, viele Knaben«, erwiderte Bumble kläglich.
»Die Pest über die Teufelsbrut«, knirschte der Fremde – »ich meine einen bestimmten Jungen, einen schwächlichen Jungen mit blassem Gesicht, der hier bei einem Sargtischler in die Lehre gegeben wurde – (Hätte er nur selber sich dort einen Sarg ausgesucht) – und dann, wie es hieß, nach London davongelaufen ist.«
»Ach, Sie meinen den jungen Oliver Twist«, rief Mr. Bumble. »Freilich entsinn ich mich seiner. Einen boshafteren, niederträchtigeren Burschen habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.«
»Ich brauche nicht von ihm zu hören«, grollte der Fremde und fiel Mr. Bumble heftig in die Rede. »Über das Weibsbild will ich etwas wissen, das seine Mutter gepflegt hat. Wo steckt sie?«
»Wo sie steckt?« fragte Mr. Bumble schlau, um Zeit zu gewinnen. »Das ist schwer zu sagen. Wo sie sich jetzt aufhält,braucht man keine Hebammen. Sie wird wahrscheinlich arbeitslos sein.«
»Was soll das heißen?« fragte der Fremde streng.
»Sie hat letzten Winter ins Gras gebissen«, versetzte Mr. Bumble.
Der Fremde sah ihn starr an und schien es anfangs nicht recht zu glauben, dann nahm sein Gesicht einen zerstreuten Ausdruck an, und er blickte weg. Er schien sich nicht klar darüber zu sein, ob ihm die Nachricht angenehm oder unangenehm sei. Endlich atmete er auf und sagte so nebenhin, es sei ihm gleichgültig, ob sie noch lebe oder nicht. Dann stand er auf und wollte fortgehen.
Aber Mr. Bumble war zu klug, um nicht zu merken, daß sich hier Gelegenheit bot, gewisse Geheimnisse, in deren Besitz seine Gattin sich befand, teuer zu verkaufen. Er erinnerte sich ziemlich genau der Zeit, in der die alte Sally gestorben war, – er erinnerte sich ihrer sogar sehr genau, denn es war an jenem Abend gewesen, wo er Hand und Herz seiner geliebten Ehegattin gewonnen. Er sagte also dem Fremden mit geheimnisvoller Miene, die alte Sally sei kurz vor ihrem Tod mit einer Frau in einer Zelle zusammengewesen, die, wie er glaube, seine Frage besser als er beantworten könne.
»Wo ist die Person zu finden?« fragte der Fremde rasch.
»Das kann nur ich allein Ihnen sagen«, erwiderte Mr. Bumble.
»Wann?«
»Morgen.«
»Also um neun Uhr abends«, sagte der Fremde, zog einen Briefbogen hervor und schrieb darauf mit zitternder Hand die Adresse eines Hauses in einer verrufenen Gegend Londons. »Kommen Sie also morgen um neun Uhr abends mit der betreffenden Person hin. Daß die Sache geheimzuhaltenist, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Ihr Interesse ist ja mit im Spiel.«
Dann zahlte er die Zeche und ging. Als Mr. Bumble einen Blick auf den Zettel warf, bemerkte er, daß jeder Name fehlte. Er lief daher dem Fremden nach, um ihn zu fragen, wie er heiße.
»Was wollen Sie«, rief der Mann und drehte sich hastig um, als ihn Bumble am Arm berührte. »Sie gehen mir nach?«
»Nein, ich wollte nur etwas fragen«, entschuldigte sich Mr. Bumble und deutete auf den Briefbogen. »Nach wem soll ich dort fragen?«
»Nach Monks«, antwortete der Mann und ging rasch weiter.
ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Was sich zwischen Mr. und Mrs. Bumble und Mr. Monks bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft begab
Es war ein schwüler Sommerabend. Den ganzen Tag über hatte es zu regnen gedroht, und die Wolken lagerten sich in dichten Massen, aus denen bereits dicke Regentropfen herabfielen. Es schien ein heftiges Gewitter im Anzug zu sein, als Mr. und Mrs. Bumble aus einer der Hauptstraßen der Stadt zu einer kleinen zerstreut liegenden Kolonie baufälliger Häuser sich wandten, an denen sich das sumpfige Flußufer entlangzog.
Sie waren beide in schäbige Mäntel gehüllt, teils, um sich vor dem Wetter zu schützen, teils, um unbemerkt zu bleiben. Mr.
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