Oliver Twist
zusammen, und die Frau redete, wenn auch im Flüsterton, so eindringlich, wie sie konnte. Die unsichern schwankenden Strahlen der an dem Flaschenzug herabhängenden Laterne fielen auf ihre Gesichter und erhöhten ihren Ausdruck der Angst, so daß sie sich in der nächtlichen Dämmerung wie Gespenster ausnahmen.
»Als die Frau, die wir die alte Sally nannten, im Sterben lag«, fing Mrs. Bumble an, »war ich allein bei ihr.«
»Wirklich niemand sonst?« fragte Monks heiser. »Keine Kranke oder Irrsinnige in einem andern Bett? Kein Mensch, der zuhören oder zusehen konnte?«
»Wir waren ganz allein«, versicherte Mrs. Bumble. »Nur ich stand an ihrem Bett, und sie sprach zu mir von einer jungen Frauensperson, die einige Jahre vorher ein Kind geboren hätte, und zwar im selben Zimmer und im selben Bett.«
»Tod und Teufel«, fluchte Monks mit bebenden Lippen und blickte scheu über seine Schulter. »Unheimlich, wie sich das Blatt doch wenden kann.«
»Es war dasselbe Kind, das du dem Herrn gestern abendgenannt hast«, fuhr die Alte fort und nickte ihrem Manne gleichgültig zu. »Und die alte Sally hat die Frauensperson bestohlen.«
»Bei ihren Lebzeiten?«
»Nein, als sie tot war«, erklärte Mrs. Bumble und konnte sich eines Schauers nicht erwehren. »Sie hat die Leiche bestohlen, und das, was sie ihr nahm, war eben das Ding, das die sterbende Mutter sie gebeten hatte um des Kindes willen aufzubewahren.«
»Hat sie es verkauft?« unterbrach Monks gespannt. »Hat sie es verkauft? Wo? Wann? An wen – vor wie langer Zeit?«
»Als mir die alte Sally alles gesagt hatte, fiel sie zurück und starb.«
»Weiter hat sie nichts gesagt?« rief Monks mit einer Stimme, aus der die verhaltene Wut deutlich hervorklang. »Das ist eine Lüge. Ich lasse mich nicht von euch hinters Licht führen. Sie hat mehr gesagt, – ich schlag euch beide tot, wenn ich nicht Näheres erfahre.«
»Sie hat kein Sterbenswörtchen mehr gesagt«, versicherte Mrs. Bumble, im Gegensatz zu ihrem Mann, der totenblaß geworden war, nicht im mindesten erschreckt. »Sie faßte krampfhaft nach meinem Kleid, und als ich ihre Hand von der meinen losmachte, fand ich einen schmutzigen Papierstreifen darin.«
»Was stand darauf?« fragte Monks atemlos.
»Nichts. Es war ein Schein von einem Pfandverleiher.«
»Worüber?«
»Das werde ich Ihnen später schon sagen. Vermutlich hat sie das Schmuckstück lange aufbewahrt. Dann zahlte sie offenbar dem Pfandverleiher jedes Jahr die Zinsen, um es später wieder einlösen zu können, falls es etwa zu irgendeiner für sie wichtigen Entdeckung führen sollte. Dazukam’s aber nicht, und sie starb mit dem Schein in der Hand, der einige Tage später verfallen sein würde. Ich löste aber das Schmuckstück ein in der Annahme, es dereinst später mit Nutzen verkaufen zu können.«
»Wo haben Sie es?«
»Hier«, erwiderte Mrs. Bumble und warf hastig, so, als sei sie froh, es endlich los zu werden, einen kleinen ledernen Beutel auf den Tisch, den Monks sofort mit zitternden Händen öffnete. Es war ein kleines goldenes Medaillon darin, in dem zwei Haarlocken und ein einfacher goldener Trauring lagen.
»Auf der Innenseite ist der Name Agnes eingraviert«, erklärte Mrs. Bumble. »Und dann Datum und Jahreszahl, die mehrere Monate vor die Geburt des Kindes fallen, wie ich in Erfahrung gebracht habe.«
»Und das ist alles?« fragte Monks und untersuchte den kleinen Beutel genau.
»Ja«, antwortete Mrs. Bumble, und ihr Gatte atmete tief auf, froh, daß alles vorüber war, ohne daß Monks die fünfundzwanzig Pfund zurückforderte. Er wischte sich den Schweiß ab, faßte Mut und machte ein entschlossenes Gesicht.
»Ich weiß nichts weiter von der Geschichte und konnte auch nichts in Erfahrung bringen«, fing Mrs. Bumble nach einer kurzen Pause wieder an. »Ich will auch nichts mehr damit zu tun haben. Unbefangenheit scheint mir in diesem Fall das beste zu sein. Aber ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«
»Fragen können Sie, soviel Sie wollen«, sagte Monks verwundert, »ob ich aber antworten werde, ist eine andre Sache.«
»Haben Sie das bekommen, was Sie erwartet haben?«
»Jawohl. Haben Sie sonst noch eine Frage?«
»Was wollen Sie damit tun? Werden Sie etwas gegen mich unternehmen?«
»Gegen Sie ebensowenig«, erwiderte Monks, »wie gegen mich selbst. Aber jetzt stehengeblieben, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
Damit schob er plötzlich den Tisch weg, packte einen in den Fußboden eingelassenen Ring und
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