Oliver Twist
KAPITEL
Nancy wird verhindert, ihr Versprechen einzulösen
So geschickt in allen Verstellungskünsten Nancy auch war, so konnte sie dennoch die Gemütsbewegung nicht gänzlich verbergen, die sie erfüllte. Der listige Jude sowohl, wie der rohe Sikes hatten sie gar oft in Pläne eingeweiht, die unbedingt geheimgehalten werden mußten, und Nancy hattesie niemals enttäuscht, so tief auch der Groll war, den sie in ihrem Herzen gegen den Juden nährte. Aber jetzt gab es für sie Augenblicke, wo sie ihm gegenüber Reue fühlte und eine leise Furcht sie beschlich, ihre Enthüllungen könnten zur Folge haben, daß er indirekt durch sie der Gerechtigkeit in die Hände fallen würde. Eine Zeitlang kämpfte sie mit sich, ob sie das Rose Maylie gegebene Versprechen einhalten solle. Dann aber blieb sie bei ihrem Entschlusse.
Aber solche Kämpfe hinterließen ihre Spuren. Nancy wurde blaß und magerte ab, und zwar derart, daß es schon binnen wenigen Tagen deutlich sichtbar war. Sie war verändert, gab zuweilen nicht acht auf das, was sich vor ihren Augen begab, nahm keinen Anteil mehr an den Gesprächen, bei denen sie früher oft die lauteste gewesen. Dann wieder lachte sie ohne Grund, und man sah ihr an, daß sie sich absichtlich zwang, heiter zu erscheinen.
Der Abend des Sonntags nahte heran. Sikes und der Jude redeten mitsammen, dann hielten sie plötzlich inne, als die Turmuhren anfingen zu schlagen. Auch Nancy blickte auf von ihrem Schemel und lauschte. Es war elf Uhr.
»Eine Stunde vor Mitternacht«, brummte Sikes und warf einen Blick durch den Fensterladen. »Finster und stürmisch. Eine gute Nacht für ein Geschäft wie unsres.«
»E Pech haben wir«, erwiderte Fagin, »e Mordspech, Billeben, daß wir gerade nix in Aussicht haben heinte Nacht.«
»Diesmal stimmt’s«, versetzte Sikes mürrisch. »Schade drum. Ich wär gerade heute so gut aufgelegt gewesen.«
Fagin seufzte und machte ein niedergeschlagenes Gesicht.
»Wir müssen später die verlorene Zeit wieder hereinbringen«, sagte Sikes.
»So recht, mei Freind«, lobte Fagin und klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter. »Es tut meinen alten Ohren wohl, so etwas aus Ihrem Munde zu hören.«
»Mir wird schon übel, wenn ich Ihre alte Pfote auf meiner Schulter spür’; nehmen Sie sie weg!« sagte Sikes unwillig und schlug die Hand des Juden beiseite.
»Ich weiß, Sie sind nervös, Bill«, entschuldigte sich Fagin, entschlossen, sich nicht beleidigen zu lassen. Dann zupfte er Sikes am Ärmel und deutete heimlich auf Nancy, die den Hut aufgesetzt hatte und das Zimmer verlassen wollte.
»Hallo!« schrie Sikes. »Wohin denn jetzt noch?«
»Nicht weit.«
»Was ist das für eine Antwort«, fuhr Sikes auf. »Wo du hingehst, will ich wissen.«
»Ich sage doch: nicht weit.«
»Und ich will wissen: wohin!« schrie Sikes. »Hast du verstanden!«
»Ich weiß selber nicht, wohin«, brummte Nancy.
»Aber ich weiß es«, rief Sikes, mehr um zu widersprechen, als weil er wirklich irgendwelchen Verdacht gehabt hätte. »Nirgendswohin. Setz dich.«
»Ich will nicht«, erwiderte das Mädchen, »ich muß ein bißchen Luft schöpfen.«
»Dann steck den Schädel zum Fenster ’naus«, riet ihr Sikes.
»Es genügt mir nicht, ich will ein bissel auf die Straße.«
»Nein, das wirst du nicht«, antwortete Sikes, stand auf, schloß die Türe ab, steckte den Schlüssel zu sich, riß ihr den Hut vom Kopf und schleuderte ihn auf einen Schrank hinauf. »So«, rief er, »und jetzt ruhig hier geblieben, verstanden!«
»Des Hutes wegen bleib’ ich nicht hier«, fuhr Nancy auf und wurde totenblaß. »Was soll das heißen, Bill!«
»Sie ist verrückt«, brummte Sikes, sich an Fagin wendend, »sonst hätt’ sie nicht die Courage.«
»Du wirst es noch so weit treiben, daß ich in meinerVerzweiflung irgendwas anstelle«, keuchte Nancy, beide Hände auf die Brust pressend, als wolle ihr das Herz zerspringen. »Laß mich hinaus, verstanden?! Noch diese Minute, jetzt in diesem Augenblick.«
»Nein.«
»Sagen Sie ihm, daß er mich fortläßt; ich rat’ es ihm. Hörst du, was ich sage«, rief Nancy und stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden.
»Natürlich hör’ ich«, wiederholte Sikes spöttisch. »Und wenn du jetzt noch mehr schreist, laß ich dir den Hund an die Kehle springen. Du bist wohl ganz verrückt, dumme Gans?«
»Laß mich gehen«, beharrte das Mädchen auf ihrem Willen. Dann setzte sie sich auf den Boden vor die Türe nieder und sagte: »Ich bitte dich,
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