Oliver Twist
noch dazu«, antwortete der Gefängniswärter.
»Werden ja sehen, was der Herr Staatssekretär fürs Innere den Pudelperücken zu sagen haben wird, wenn i ’s scho nöt tu«, versetzte der Baldowerer. »Was ist das übrigens für a’ G’schäftsführung? Die Herren von der Justiz werden mich sehr verbinden, wenn s’ den kleinen Vorfall hier rasch erledigen, statt dazusitzen und die Zeitung z’ lesen. I’ bin zu an Schentlemän in die City bestellt und i’ bin a Mann von Wort, und wenn i’ nöt zur rechten Stunde da bin, geht er fort. Das setzt dann eine Klage auf Schadenersatz, haben Sie mich verstanden? Heda, Sie, Kopierstift, wie heißen da die beiden Burschen auf der Zeugenbank?«
»Ruhe!« rief der Gefängniswärter.
»Was liegt vor?« fragte einer der Richter.
»Ein Fall von Taschendiebstahl, Ehrwürden Herr Richter.«
»Ist der Junge schon einmal vor Gericht gewesen?«
»Hätt’s schon manchmal sein sollen, Euer Ehrwürden. Ich kenn’ ihn recht gut.«
»So so, Sie kennen mich, oho«, rief der Baldowerer und tat, als mache er sich eine Notiz. »Sehr gut. Das gibt wieder eine Klage wegen Ehrenbeleidigung.«
Es wurde abermals gelacht und abermals Ruhe geboten.
»Weiter«, sagte der Schreiber; »wo sind die Zeugen?«
»Ja, das möcht’ ich auch gern wissen«, setzte der Baldowerer hinzu. »Die G’frieser hätt’ ich auch ganz gern g’sehen.«
Sein Wunsch wurde ihm bald gewährt, denn ein Polizeidiener trat vor und meldete, er habe gesehen, wie der Angeklagte einem unbekannten Herrn im Gedränge die Tascheuntersucht und ein Schnupftuch herausgezogen habe. Da es aber sehr schadhaft gewesen, habe es der Junge behutsam wieder in die Tasche hineingeschoben, nachdem er es vorher an der eigenen Nase probiert. Aus diesem Grund habe er den Angeklagten verhaftet und bei ihm sodann eine silberne Schnupftabaksdose gefunden, auf deren Deckel der Name des rechtmäßigen Eigentümers eingraviert sei.
Der betreffende Herr war inzwischen ermittelt worden und bei der Verhandlung anwesend. Er beschwor, daß die Dose sein eigen sei und ihm tags zuvor gestohlen worden wäre. Ferner beeidete er, daß er in dem vor ihm stehenden Jungen mit Sicherheit den Taschendieb wiedererkenne.
»Hast du an den Herrn Zeugen eine Frage zu richten, Bursche?« fragte der Richter.
»Ich red’ nicht mit einem jeden; so weit erniedrige ich mich nicht«, erwiderte der Baldowerer stolz.
»Hast du überhaupt etwas zu sagen?«
»Du! Ob du verstanden hast? Der Herr Richter stellt eine Frage an dich«, schrie der Gefangenenwärter und versetzte dem schweigenden Baldowerer einen Puff mit dem Ellbogen.
»Bitte um Entschuldigung«, murmelte Mr. Dawkins und tat zerstreut. »Haben Sie mit mir gesprochen?«
»Mein Lebtag lang hab ich einen solchen Mistbuben noch nicht gesehen«, brummte der Gefängniswärter. »Ob du was sagen willst, Lausebengel?«
»Nein«, entgegnete der Baldowerer hochmütig. »Hier nicht. Es ist nicht der rechte Ort für mich. Übrigens frühstückt mein Anwalt heute bei dem Vizepräsidenten des Unterhauses. Aber an andrer Stelle werd’ ich das Maul schon aufreißen und die Herrn Pudelperücken auch, wenn sie erst sehen werden, mit wem sie’s zu tun haben. Sie werden noch wünschen, sie wären niemals geboren oder vonihren Bedienten aufgehängt worden zur rechten Zeit, statt heute ihre Frechheiten an mir auszulassen.«
»Er ist überführt. Ins Gefängnis mit ihm. Bringen Sie ihn hinaus«, rief der Schreiber.
»Komm her, Bursche«, befahl der Gefängniswärter.
»Komme schon«, sagte der Baldowerer, seinen Hut mit der flachen Hand glättend, und wandte sich nochmals an die Richterbank: »Ja ja, macht nur dumme Gesichter und werdet blaß. Das hilft euch nichts. Ich möcht’ nicht in eurer Haut stecken, das weiß ich, und wenn ihr mich jetzt freilasset und ihr fallet auf die Knie vor mir und betteltet, ich soll gehen: ich ging doch nicht. Die Sache wird ein Nachspiel haben. Verstanden?«
Der Gefängniswärter zerrte ihn am Kragen hinaus. Master Dawkins drohte noch ein paarmal, die Sache vors Parlament zu bringen, und lächelte ihn dann selbstzufrieden an.
Noah Claypole sah noch, wie man ihn in eine kleine Zelle führte, dann eilte er, so schnell er konnte, zurück nach dem Ort, wo er Master Bates verlassen hatte.
Dann liefen sie zu zweit zu Mr. Fagin, um ihm die herzerfreuliche Nachricht zu bringen, der Baldowerer habe sich seines Lehrmeisters würdig erwiesen und sich mit Ruhm bedeckt.
VIERUNDVIERZIGSTES
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