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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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laß mich gehen. Du weißt nicht, was du tust, du weißt es wirklich nicht. Bloß eine Stunde will ich hinaus.«
    »Da soll mich doch der Teufel in Stücke reißen«, schrie Sikes und packte sie grob am Arm, »wenn das Weibsbild nicht ganz und gar verrückt geworden ist. Marsch aufgestanden!«
    »Nicht eher, als bis du mich gehen läßt, nicht eher«, kreischte Nancy.
    Sikes paßte eine Gelegenheit ab, um ihr mit einem Ruck die Hände auf den Rücken zu drehen und sie auf diese Weise, so heftig sie sich auch sträubte, in die anstoßende kleine Stube zu schleppen, wo er sich auf eine Bank setzte, sie in einen Stuhl warf und mit Gewalt festhielt. Sie wehrte sich ununterbrochen und bettelte dann wieder dazwischen, bis es zwölf Uhr geschlagen hatte. Dann gab sie ermattet ihre Absicht auf. Sikes stieß noch ein paar Flüche und Drohungen aus, ließ ihr dann Zeit, sich wieder zu erholen, und kehrte zu Fagin zurück.
    »Ganz und gar verrückt ist das Weibsbild«, brummte der Einbrecher und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
    »Da haben Sie wohl recht, Billeben«, meinte Fagin nachdenklich, »da haben Sie wohl recht.«
    »Was ihr wohl heute in den Kopf gefahren ist, gerade jetzt gegen Mitternacht auszugehen? Was meinen Sie, Fagin?« fragte Sikes. »So reden Sie doch! Sie kennen sie doch besser als ich. Was soll das heißen?«
    »Eigensinn, Billeben, Eigensinn, sonst nix.«
    »Nun ja, natürlich«, brummte Sikes. »Und ich hab’ schon geglaubt, ich hätte sie untergekriegt. Aber so schlimm wie heute war sie noch nie.«
    »Schlimmer als je«, sagte Fagin nachdenklich. »Mein ganzes Leben lang hab’ ich sie noch nicht so aufgeregt gesehen wegen einer geringfügigen Geschichte.«
    »Ich auch nicht«, brummte Sikes. »Ich glaube, sie hat noch etwas vom Fieber in sich.«
    »Wahrscheinlich.«
    »Ich werd’ ihr zur Ader lassen, ohne den Doktor deshalb zu rufen«, höhnte Sikes, »wenn sie noch einmal einen Anfall kriegt.«
    Fagin nickte ausdrucksvoll. Inzwischen kam Nancy wieder heraus aus dem Nebenzimmer und nahm ihren alten Platz wieder ein. Ihre Augen waren geschwollen und gerötet. Sie wiegte sich hin und her, schüttelte den Kopf und brach dann plötzlich in lautes Lachen aus.
    »Was heißt denn das schon wieder!« rief Sikes mit einem erstaunten Blick auf den Juden.
    Fagin gab ihm einen Wink, das Mädchen nicht weiter zu beachten, und ein paar Minuten später saß sie wieder da wie vorhin. Fagin flüsterte Sikes zu, er solle still bleiben, dann nahm er seinen Hut und sagte beiden gute Nacht.An der Türe blieb er einen Augenblick stehen, drehte sich noch einmal um und bat, man möge ihm die dunkle Treppe hinunterleuchten.
    »Leucht ihm hinunter«, brummte Sikes, sich seine Pfeife stopfend. »Es wäre gar zu schade, wenn er sichs Genick bräche.«
    Nancy folgte dem alten Juden die Stiege hinab, die Kerze in der Hand. Unten angelangt, legte Fagin den Finger an die Lippen, zog das Mädchen dicht an sich heran und sagte flüsternd:
    »Was ist gewesen, Nancy, mei Schatz?«
    »Wie meinen Sie das?« antwortete Nancy ebenfalls flüsternd.
    »Die Ursach’ möcht’ ich wissen«, sagte Fagin. »Wenn er schon« – dabei deutete er mit seinem knöchernen Finger die Stiege hinauf – »wenn er schon so roh ist zu dir, – er ist doch ein Viech, Nancyleben, ein brutales Mistviech, – warum willst du dann nicht –«
    »Nun?« fragte Nancy, als Fagin innehielt, wobei er mit seinem Mund fast ihr Ohr berührte und sich seine Augen tief in die ihrigen bohrten.
    »Es is kei Gelegenheit jetzt«, flüsterte der Jude. »Wir reden e andres Mal drüber. An mir hast du en Freind, Nancyleben, en starken, festen Freind. Ich hab’ auch die Mittel, – wenn du dich willst rächen an ihm, wo er dich behandelt wie en Hund – schlimmer als en Hund, denn dem schmeichelt er doch zuweilen, – so komm zu mir, ich sag’ dir bloß: komm zu mir. Er ist dir e Freind von gestern, mich kennst du schon jahrelang, Nancyleben.«
    »Ja, ja, dich kenn’ ich gut«, erwiderte das Mädchen ohne die geringste Erregung. »Gute Nacht.«
    Sie wich zurück, als er ihr die Hand reichen wollte, sagte ihm nochmals mit fester Stimme gute Nacht und erwiderteseinen Abschiedsblick mit verständnisvollem Nicken. Dann schloß sie die Türe hinter ihm.
    Tief in Grübeln versunken schritt Fagin seinem eigenen Hause zu. Er neigte schon längst zu der Ansicht – und war durch das jetzt Vorgefallene darin bestärkt worden –, daß Nancy, der Roheit des Verbrechers

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