Oliver Twist
der Jude, »wie er e so dosteht.«
»Ich auch, ich auch«, stimmte Charley Bates mit ein. »Ich seh ihn auch schon im Geiste; meiner Seel’, Fagin, ich seh ihn. Und wie sich die Pudelperücken dabei bemühen, ernst und heilig dreinzuschauen, und wie Dawkins von oben herunter mit ihnen spricht. Hahaha!«
»Wir müssen erfahren, wie es heinte steht mit ihm auf irgendeine Art, so oder so«, sagte Fagin. »Laß mich emol nachdenken.«
»Soll ich hingehn?« fragte Charley.
»Gott über die Welt«, wendete Fagin ein, »bist du meschugge geworden, ganz meschugge geworden?«
»Also wollen Sie vielleicht selbst gehen?« spöttelte Charley.
»Es würde sich nicht recht schicken«, versetzte Fagin kopfschüttelnd.
»Dann schicken Sie vielleicht das junge Beindel hin«, riet Mr. Bates und deutete auf Noah. »Den kennt doch keiner.«
»Hm, wenn er nicht abgeneigt ist –« bemerkte Fagin.
»Abgeneigt!« fiel ihm Charley in die Rede. »Hat er vielleicht irgendwelche Ursache abgeneigt zu sein?«
»Genau genommen, nein, mei Schatz. Mei Lieber«, sagte Fagin, sich an Mr. Bolter wendend, »nicht wahr, wir haben keine?«
»Wie meinen Sie das?« fragte Noah, schüttelte entsetzt den Kopf und wollte sich zur Türe drücken. »Das gibt’s bei mir nicht. Das schlägt nicht in meine Branche.«
»Was für eine Branche hat er sich denn ausgewählt, Fagin?« sondierte Master Bates und betrachtete Noahs klapperdürre Gestalt mit Mißbehagen. »Geld einstecken und nichts hergeben, nichts dafür leisten, das ist vielleicht seine Branche?«
»Stecken Sie Ihre Nase da nicht hinein«, verwies ihn Mr. Bolter. »Nehmen Sie sich solche Frechheiten nicht heraus gegen Ihren Vorgesetzten, Sie Dreikäsehoch, sonst kommen Sie an den Unrechten.«
Master Bates brüllte heraus vor Lachen, so daß es einige Zeit dauerte, ehe sich Mr. Fagin einmischen und Mr. Bolter auseinandersetzen konnte, er würde keinerlei Gefahr laufen, wenn er aufs Polizeikommissariat ginge, denn wegen der kleinen Geschichte, in die er verwickelt sei, könne unmöglich schon ein Steckbrief nach London gelangt sein. Übrigens würde man ihn entsprechend verkleiden und er würde auf der Polizei sicherer sein als irgendwo anders.
Schließlich willigte Mr. Bolter, teils überzeugt, teils überrumpelt ein, den Gang anzutreten. Er wurde sogleich in einen Fuhrmannskittel, in Drillichhosen und Ledergamaschen gesteckt – eine Garderobe, die der Jude stets in größter Auswahl zur Hand hatte –, dann gab man ihm einen Filzhut, der mit Chausseetickets reichlich gespickt war, und schließlich eine Fuhrmannspeitsche. So ausgerüstet sollteMr. Bolter auf das Kommissariat schlendern wie ein Bauer, der auf den Markt gefahren ist und sich in seiner Neugierde alles ansieht. Pünktlich folgte Noah allen Weisungen, die der Jude ihm gab, und da Master Bates in der Örtlichkeit ziemlich vertraut war, so gelangten sie ohne weitere Störung in die Nähe des Polizeigebäudes. Ein Pöbelhaufen, meistens aus Weibern bestehend, drängte sich dort dicht in einem schmutzigen übelriechenden Raum, an dessen oberem Ende ein hohes Geländer den Raum abschloß. Links an der Wand war die Bank für die Angeklagten, in der Mitte ein Raum für die Zeugen und rechts ein Pult für die Obrigkeit. Diese ehrfurchtgebietende Stätte war durch eine Zwischenwand abgetrennt, die die Richterbank dem allgemeinen Anblick verhüllte und dem Pöbel gestattete, sich das Majestätische der Justizobrigkeit entsprechend auszumalen. Vor den Schranken standen ein paar Weiber, ihren Angehörigen oder Bekannten zunickend, und der Gerichtschreiber verlas Zeugenaussagen. Hie und da kreischte ein Säugling auf, und der Gefängniswärter rief dann jedesmal streng: »Das Kind hinausschaffen.«
Noah blickte sich nach dem Baldowerer um, konnte aber niemand sehen, auf den die Beschreibung paßte, die ihm gegeben worden war. Endlich hatte man die vor den Schranken stehenden Frauenzimmer abgeurteilt und entfernt. Es erschien ein neuer Angeklagter, offenbar der Baldowerer.
Und es war wirklich Mr. John Dawkins, der da, den Hut in der Hand, die Linke in der Hosentasche, hereinschritt und sogleich mit lauter Stimme fragte, kaum, daß er auf der Anklagebank angekommen war, warum man ihn an diesen schmachvollen Ort geführt habe.
»Halt den Mund, verstanden!« rief ihm der Gefängniswärter zu.
»Bin ich ein Engländer oder nicht?« antwortete der Baldowerer. »Wo bleiben meine Privilegien?«
»Wirst schon welche kriegen, und gepfefferte
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