Oliver Twist
–«
»Sehnsucht gehabt?« ergänzte Fagin. »Sehr richtig! Sehnsucht hat man nach ihm gehabt.«
»Inwiefern?«
»Na, so ä besondre Sehnsucht grad nicht. Man hat jemand beschuldigt wegen Taschendiebstahl und hat bei ihm gefunden e silberne Schnupftabaksdose, und die ist zufällig seine eigene gewesen. Hat er doch selber Tabak geschnupftund zwar sehr passioniert. Sie haben ihn ä Zeitlang festgehalten, denn sie haben gehofft, sie könnten den Eigentümer von der Dose eruieren. Unter uns gesagt, wert gewesen ist der Bursch an die fufzig Dosen. Aber selbst die fufzig Dosen möcht’ ich hergeben, wenn ich ihn wieder hätt’. Wissen Sie wen? Den Baldowerer haben sie ihn geheißen. Den hätten Sie kennenlernen sollen!«
»Hoffentlich geschieht das noch.«
»Ich hab’ so gewisse Zweifel«, seufzte Fagin. »Wenn sie nicht en Beweis erbringen können, wird mer summarisch verfahren, aber sechs Monat wird’s schon dauern, bis ich ihn wiederhab. Ich sag Ihnen was: schaffen Sie Beweise zur Stelle.«
Das Zwiegespräch erlitt eine jähe Unterbrechung. Master Bates trat ein, die Hände in den Hosentaschen und mit einem Gesicht, in dem, gelinde gesagt, eine Jammermiene zu sehen war.
»Aus ist’s Fagin«, berichtete Charley, als er Mr. Bolter vorgestellt worden war.
»Was willst du sagen mit deiner Rede?« fuhr Fagin auf.
»Sie haben den Herrn gefunden, dem die Dose gehört. Es handelt sich nur noch um ein paar Zeugen, um seine Glaubwürdigkeit und Persönlichkeit festzustellen – und dann kann der Baldowerer eine größere Seereise antreten«, versetzte Master Bates. »Fagin, ich sag’ Ihnen, ich muß einen kompletten Traueranzug haben und ein Band um den Hut, damit ich meinen Kondolenzbesuch machen kann, bevor der Dampfer in See sticht. O Gott, wenn ich an den feschen Dawkins denke und daß der übers Wasser muß und wegen einer hundsgemeinen Schnupftabaksdose für ein paar Groschen. Wenn’s schon so kommen mußte, warum hat er nicht irgendeinem alten reichen Herrn seine ganzen Gold- und Wertsachen geraubt und ist aus dem Land gegangenals Gentleman. Jetzt ist er ein hundsgemeiner Dieb, ehr- und ruhmlos.«
Verzweifelt und bekümmert setzte sich Master Bates in den nächsten Sessel.
»Wie heißt: ehr- und ruhmlos?« rief Fagin mit einem ärgerlichen Blick auf seinen Zögling. »Ist er vielleicht nicht immer gewesen e großer Herr unter eich allen? Kann einer von eich auch nur tippen an ihm, was?«
»Nein, kein einziger«, gab Master Bates mit schmerzlicher Stimme zu. »Kein einziger.«
»Na also, was schmust de denn«, versetzte Fagin grimmig.
»Es wird ja doch nicht im Protokoll stehen«, erläuterte Charley, »und niemand wird je auch nur erfahren, wie groß er einst gewesen ist. Oder glauben Sie, er kommt in den Verbrecheralmanach? Ein Schlag ist es, sag’ ich Ihnen.«
»Hihi«, jubelte der Jude und gestikulierte. »Sehen Sie, Mr. Bolter, wie stolz meine Leute sind auf ihren Beruf! Ist das nicht erhaben?«
Mr. Bolter nickte zustimmend. Dann schritt Mr. Fagin zu dem jungen Herrn hin und klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
»Sorg dich nicht, Charley, sorg dich nicht«, sagte er besänftigend, »jach werd schon en Ausweg finden. Wir wissen doch alle, was er is gewesen für ein gerissener Bursch. Er wird seinem alten Lehrmeister nicht Unehre antun. Er wird sich schon herausreden. Und dann denk nach, Charley, was für eine hohe Ehre, in seinem jungen Alter schon in eine Deportationsgeschichte verwickelt zu sein.«
»Ein Ehre ist’s freilich«, murmelte Charley, ein wenig getröstet.
»Und es soll ihm nix abgehn«, fuhr der Jude fort. »Er soll leben im Gefängnis wie e feiner Herr, Charley. Er soll bekommen täglich sei Bier und sei Taschengeld, damit er kannspielen Kopf oder Wappen, und en Verteidiger wird er kriegen und so weinter und so weinter.«
»Nein, wirklich?« rief Charley Bates.
»Ich soll ä so leben«, versetzte Fagin. »Und wenn ihm ä Rechtsanwalt nicht paßt, kann er sich selber e Rede halten, und die werden wir dann abgedruckt lesen in allen Zeitungen. ›Der gerissene Baldowerer‹ wird drüber stehen. Der Gerichtshof kriegt die Krämpf, steht in Klammern dabei. Was, Charley?«
»Hoho«, lachte Master Bates, »das wär ein Jux! Was, Fagin? Und wie’s ihnen der Baldowerer geben möcht’, was?«
»Geben möcht!« rief Fagin. »Geben wird , geben wird !«
»Natürlich, freilich, natürlich«, wiederholte Charles, sich die Hände reibend.
»Ich seh ihn schon im Geinste«, rief
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