Oliver Twist
überdrüssig, sich irgendeinen neuen Freund erwählt habe. Ihr verändertes Wesen, ihre Teilnahmslosigkeit an den gemeinsamen Interessen, ihre verzweifelte Ungeduld, um Mitternacht plötzlich aus dem Hause zu wollen, alles das verdichtete sich bei ihm fast zu einem greifbaren Verdacht. Aber der Gegenstand ihrer Neigung befand sich nicht unter seinen Spießgesellen, sagte er sich; der Betreffende müßte, angeleitet von einer so tüchtigen Person wie Nancy, ein wertvoller Gehilfe für ihn sein, folgerte er, und dann galt es, noch ein andres Ziel zu erreichen. Sikes wußte zu viel und seine Rohheiten hatten ihn nur zu oft schwer verletzt. Wenn er beiseite geschafft würde und ein andrer käme an seine Stelle, bedeutete das nur Angenehmes.
Solche und ähnliche Gedanken ließ sich Fagin schon während der kurzen Zeit, die er in der Stube mit dem Einbrecher zusammengesessen, durch den Kopf gehen, und als er Nancy indirekt an der Haustüre auf den Kopf zugesagt hatte, was er sich denke, da hatte sie kein Erstaunen gezeigt, sogar anscheinend verstanden und ihn begriffen. Der Abschiedsblick hatte genug gesagt.
Vielleicht würde sie aber doch vor einem Komplott, Sikes wegzuschaffen, zurückschrecken, und das war gerade eines der wichtigsten Ziele, die erreicht werden mußten. ›Wie‹, dachte sich Fagin, als er nach Hause schlich, ›wie kann ich meinen Einfluß auf sie vergrößern?‹
Menschengehirne wie das seinige sind nicht so leicht um Auskünfte verlegen. Wenn er ihr einen Spion auf die Fersensetzte und den Gegenstand ihrer veränderten Neigung erführe und ihr damit dann drohe, die ganze Geschichte Sikes zu enthüllen –? »Ja ja, so geht’s«, sagte sich Fagin laut und drohte mit finstrer Miene nach der Richtung, in der er den Verbrecher verlassen hatte. Dann ging er weiter seines Wegs – mit seinen knochigen Fingern in den Falten seines Kaftans wühlend, als quetsche er mit jeder Bewegung seinem verhaßten »lieben Freunde Sikes« das Leben aus dem Leibe.
FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Noah Claypole wird von Fagin als Spion verwendet
Am nächsten Morgen zeitig auf den Beinen, wartete er ungeduldig auf das Erscheinen seines neuen Genossen, der sich denn auch endlich einfand und mit Gier über das Frühstück herfiel.
»Bolter«, sagte der Jude und rückte seinen Stuhl näher an ihn heran.
»Ja ja, reden Sie nur«, sagte Noah und schnitt sich eine riesige Scheibe Brot ab. »Wo steckt Charlotte?«
»Ausgegangen is sie«, sagte Fagin, »mit die andern jungen Frauenzimmer. Ich hab gewollt, daß sie zusammen sind.«
»Mir wär’s lieber, sie hätten noch mehr Frühstück vorbereitet«, unterbrach ihn Noah.
»Sie haben gestern e schenes Stück Arbeit geliefert, mei Freind, schen, sehr schen, sechs Schillinge und eine Halfpence am ersten Tag, das lass’ ich mir gefallen. Das Kinderberauben wird Ihnen noch ein Vermögen einbringen.«
»Übrigens brauch ich Sie jetzt, Bolter«, setzte er ungeduldig hinzu und beugte sich über den Tisch. »Sie sollen mir e großen Gefallen tun, mei Freind. E Arbeit, die große Achtsamkeit erfordert und große Vorsicht.«
»Schicken Sie mich nur nicht wieder auf die Polizei«, fuhr Bolter auf, »das paßte mir nicht, das sag’ ich Ihnen gleich.«
»Es ist nicht die geringste Gefahr dabei. Es handelt sich um weiter nix als: em Weibsbild sollen Sie nachspionieren.«
»Einem alten?« fragte Mr. Bolter.
»Im Gegenteil.«
»Das kann ich ziemlich gut«, versicherte Bolter. »Schon als ich noch zur Schule ging, hab’ ich den Mädels fleißig nachgestellt. Aber zu welchem Zweck soll ich spionieren? Doch nicht, um –«
»Zu tun ist gar nichts«, unterbrach ihn der Jude. »Bloß berichten sollen Sie mir, wohin sie gegangen ist, mit wem sie redet und womöglich: was sie redet. Und dann sollen Sie sich merken die Straße, wenns e Straße is, oder das Haus, und mir alles berichten.«
»Und was geben Sie mir dafür?« fragte Noah, setzte seine Teetasse nieder und blickte dem Alten scharf ins Gesicht.
»Wenn Sie Ihre Sache gut machen, mei Freind, – e Pfund, e ganzes volles Pfund, in der Tat e Stick Geld! So viel hab’ ich noch niemals in meinem Leben gegeben für dergleichen.«
»Und wer ist die Person?«
»Eine von unsre Leit.«
»Donnerwetter«, rief Noah und schnüffelte in der Luft. »Sie trauen ihr also nicht?«
»Sie hat e paar neie Freinde gefunden, und ich muß wissen, wer sie sind«, erklärte Fagin.
»Ich verstehe«, brummte Noah und kopierte des Juden
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