Oliver Twist
Mitternacht lag über der menschenüberfüllten Stadt. Das Läuten war kaum eine Minute verklungen, da entstiegen eine Dame und ein grauköpfiger Herr kurz vor der Brücke einer Mietsdroschke. Sie hatten kaum den Fuß auf das Brückentrottoir gesetzt, als Nancy zusammenfuhr und ihnen entgegenging.
»Nicht hier«, sagte sie hastig. »Ich fürchte mich, hier mit Ihnen stehenzubleiben. Kommen Sie mit fort von da – weg von der offnen Brücke; vielleicht dort drüben die Treppen hinunter.«
Noch während sie diese Worte hervorstieß und mit der Hand in die Richtung zeigte, blickte sich der als Fuhrmann verkleidete Noah Claypole um und fragte barsch die drei,ob sie vielleicht die Absicht hätten, das ganze Trottoir für sich allein einzunehmen.
Die Treppe, auf die Nancy hingezeigt hatte, lag auf dem Surrey-Ufer und bildete einen Landungssteig, der vom Fluß heraufführte. Dieser Stelle nun eilte der Fuhrmann zu und schickte sich an, nachdem er sie eine Sekunde gemustert, hinunterzusteigen. Die Treppe bildete einen Teil der Brücke selbst und bestand aus drei Abteilungen. Als der Fuhrmann ihre erste Krümmung erreichte, erkannte er sofort, daß es keinen besseren Platz zum Verstecken für ihn geben könnte als diesen, da Ebbe war und Raum genug für ihn, sich zu verbergen.
Er drückte sich ganz dicht an die Mauer und lauschte. »Der Ort hier ist abgelegen genug«, hörte er eine Stimme sagen, die offenbar dem grauköpfigen Herrn gehörte. »Ich kann nicht dulden, daß meine junge Begleiterin noch einen Schritt weitergeht.«
»Es ist keine Laune von mir«, versetzte Nancy, »als ich Ihnen vorhin sagte, ich fürchtete mich oben mit Ihnen zu reden. Ich weiß ja keinen Grund«, sagte sie schaudernd, »aber es fröstelt mich heute vor Furcht, und eine Angst würgt mich, daß ich mich kaum auf den Füßen halten kann.«
»Furcht? Wovor?« fragte der Herr offenbar mitleidig.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Nancy. »Ich wollte, ich wüßte es. Es sind Gedanken an Tod und an Grabtücher, an denen Blut klebt. Eine Furcht, die mir die Adern versengt, als stünde ich im Feuer. Sie ist heute den ganzen Tag nicht von mir gewichen.«
»Einbildung«, beschwichtigte sie der alte Herr.
»Nein, nicht Einbildung«, widersprach Nancy mit heiserer Stimme. »Ich habe in einem Buch gelesen und das, wovor ich mich fürchte, sah ich dort gedruckt. Ich habe das Wort Sarg geschrieben gesehen auf jeder Seite einesBuches in großen schwarzen Buchstaben, und einen haben sie dicht an mir vorübergetragen unten auf der Gasse.«
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte der Herr. »Wie oft sind Särge an mir vorübergetragen worden.«
»Ja, wirkliche Särge«, murmelte Nancy. »Was ich aber sah, waren keine wirklichen.«
Es lag etwas so Unheimliches in ihrer Redeweise, daß dem versteckten Lauscher eine Gänsehaut überlief und ihm das Blut in den Adern stockte. Er atmete auf vor Erleichterung, als die milde Stimme der jungen Dame, die mit dem alten Herrn herabgekommen war, ertönte und das Mädchen bat, sich doch zu beruhigen.
»Reden Sie ihr zu, Sir«, sagte sie zu ihrem Begleiter, »es ist ein armes Wesen.«
Der Herr wandte sich kurz an Nancy.
»Sie sind letzten Sonntag nicht hier gewesen«, begann er.
»Ich konnte nicht abkommen«, erklärte Nancy. »Man hat mich mit Gewalt zurückgehalten.«
»Wer denn?«
»Nun der, von dem ich der jungen Dame bereits erzählt habe.«
»Er hat doch hoffentlich nicht Verdacht gefaßt?«
»Nein« – das Mädchen schüttelte den Kopf – »aber es ist nicht leicht für mich, von ihm wegzugehen, ohne daß er den Grund weiß. Selbst damals, als ich die junge Dame aufsuchte, hätte ich nicht wegkönnen, wenn ich ihm nicht vorher heimlich Laudanum eingegeben hätte.«
»Und war er erwacht, als Sie zurückkamen?« erkundigte sich der alte Herr.
»Nein. Weder er noch sonst jemand hat Verdacht gegen mich geschöpft.«
»Gut. Also dann hören Sie mir zu.«
»Ich bin bereit.«
»Die junge Dame hier«, fing der alte Herr an, »hat mir und einigen andern Freunden, die vertrauenswürdig sind, erzählt, was Sie ihr damals mitgeteilt haben. Ich gestehe Ihnen, daß ich im ersten Augenblick gezweifelt habe, ob man sich auf Sie verlassen könne, jetzt aber glaube ich fest und bestimmt, daß man es darf.«
»Ja, Sie dürfen es«, sagte Nancy ernst.
»Ich wiederhole, daß ich davon überzeugt bin«, fuhr der alte Herr fort, »und um Ihnen den Beweis dafür zu erbringen, sage ich Ihnen gleich offen heraus: es
Weitere Kostenlose Bücher