Oliver Twist
handelt sich uns darum, dem Manne, der sich Monks nennt, das Geheimnis, das er besitzt, irgendwie zu entreißen. Sollte das aber nicht gelingen, bleibt nichts andres übrig, als daß Sie uns den Juden in die Hände liefern.«
»Fagin?« rief Nancy zurückweichend.
»Diesen Menschen müssen Sie uns in die Hände liefern!« sagte der alte Herr fest.
»Das werde ich nicht tun. Niemals im Leben. Wenn er auch ein Teufel ist und schlimmer als das. Aber so etwas werde ich nie tun.«
»Sie wollen nicht?« fragte der Herr, anscheinend auf diese Antwort vorbereitet.
»Niemals.«
»So nennen Sie mir den Grund, weshalb nicht.«
»Aus dem einen Grund«, erklärte Nancy fest, »den die junge Dame bereits kennt, und in dem sie mich unterstützen wird, denn sie hat mir ihr Versprechen gegeben. Es sind viele unter uns, die zusammen dieselben Wege gewandelt sind, und ich werde niemals zur Verräterin an ihnen werden, so schlecht sie auch sein mögen.«
»Dann«, sagte der alte Herr rasch, »dann liefern Sie uns Monks in die Hände und überlassen Sie ihn uns.«
»Was aber, wenn er die andern verrät?«
»Ich verspreche Ihnen feierlich, daß wir es uns damit genügen lassen werden, ihm das Geheimnis zu entreißen. Es müssen in Olivers Leben Dinge eine Rolle spielen, die die Öffentlichkeit scheuen, – und wenn die Wahrheit erst einmal offenkundig sein wird, dann werden wir niemanden in seiner Freiheit verkürzen.«
»Wenn das aber nicht gelingen sollte?« fragte Nancy.
»Dann«, fuhr der alte Herr fort, »soll Fagin, ohne daß Sie einwilligen, dem Arm der Gerechtigkeit nicht übergeben werden.«
»Verspricht mir das auch die junge Dame?«
»Ja«, erwiderte Rose. »Ich gelobe es Ihnen.«
»Und Monks wird nie erfahren, wer Ihnen alles verraten hat?«
»Nein, niemals.«
Einen Augenblick überlegte Nancy noch, dann beschrieb sie die Schenke »Zu den drei Krüppeln«, aber mit so leiser Stimme setzte sie noch anderes hinzu, daß es Noah Claypole oftmals schwer wurde, aus den Bruchstücken, die er hörte, sich das übrige zurechtzureimen.
»Monks ist groß von Gestalt«, hörte er Nancy deutlich sagen. »Er ist ein kräftiger Mann, aber nicht dick. Sein Gang hat etwas Schleichendes, und wenn er geht, zieht er beständig beide Schultern hoch. Vergessen Sie das nicht. Es ist das beste Kennzeichen. Und dann liegen ihm die Augen viel tiefer im Kopf, als ich es sonst bei irgend jemand gesehen habe. Seine Hautfarbe ist dunkel, und wenn er auch höchstens sechs- oder achtundzwanzig Jahre alt sein kann, so ist doch seine Haut welk und fahl und das Gesicht abgezehrt. Seine Lippen sind farblos und narbenbedeckt. Er leidet an schrecklichen Anfällen und beißt sich sogar oft auch in die Hände – warum fahren Sie denn plötzlich so zusammen?« fragte sie und hielt plötzlich inne.
Der alte Herr antwortete hastig, es habe nichts auf sich, und bat sie, fortzufahren.
»Was ich Ihnen da sage«, erzählte Nancy weiter, »habe ich von andern Hausbewohnern herausbekommen. Ich selbst habe ihn nur zweimal gesehen, und beide Male war er in einen großen Mantel gehüllt. Ich glaube, das ist alles«, schloß sie. »Doch warten Sie!« setzte sie hinzu. »Ziemlich hoch über der Kehle, so daß man es noch über dem Halstuch sehen kann, wenn er das Gesicht bewegt – hat er –«
»Ein breites rotes Muttermal, wie eine Brandwunde«, rief der Herr.
»Was ist das!« fuhr Nancy auf. »Sie kennen ihn?«
Auch die junge Dame stieß einen Ausruf des Erstaunens aus, und ein paar Augenblicke schwiegen alle drei so still, daß der Horcher deutlich ihre Atemzüge hören konnte.
»Ich glaube ihn zu kennen«, fing der alte Herr wieder an. »Ich habe ihn nach Ihrer Beschreibung erkannt. Nun, wir werden ja sehen. Vielleicht täuscht mich eine Ähnlichkeit. Ähnlichkeiten können ja vorkommen.« Und mit scheinbarer Gleichgültigkeit machte er ein paar Schritte nach der Stelle hin, wo Noah Claypole versteckt war. Dieser konnte ihn deutlich vor sich hin flüstern hören: er muß es sein, er muß es sein.
»Nun«, sagte der alte Herr und drehte sich wieder um und ging zu Nancy zurück, »Sie haben uns einen sehr wichtigen Dienst erwiesen, und es ist mein lebhaftester Wunsch, mich Ihnen hierfür erkenntlich zu zeigen. Kann ich gar nichts für Sie tun?«
»Gar nichts«, versetzte Nancy.
»Sie werden doch dabei nicht beharren wollen«, versetzte der alte Herr, und aus seiner Stimme klang soviel Güte und Liebe, daß wohl ein härteres Herz als das Nancysdavon
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