Oliver Twist
hätte gerührt werden müssen. »Besinnen Sie sich. Sagen Sie es mir offen, junges Mädchen.«
»Sie können mir nicht helfen, Sir«, wiederholte Nancy schluchzend. »Sie können mir in keiner Weise helfen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr, – wirklich, glauben Sie mir!«
»Sie wollen sich nur selbst aller Hoffnung benehmen«, redete ihr der alte Herr zu. »Die Vergangenheit ist eine furchtbare Zeit für Sie gewesen, für die Zukunft aber dürfen Sie nicht die Hoffnung sinken lassen. Ich sage nicht, daß es in unsrer Macht liegt, Ihnen Herzens- und Seelenfrieden wiederzugeben, denn ein solcher muß in dem Maße kommen, wie Sie ihn suchen. Aber eine Zufluchtsstätte, entweder im Inland oder im Ausland, können wir Ihnen schaffen. Und das ist unser innigster Wunsch. Bevor noch der Tag graut, können Sie dem Bereich Ihrer jetzigen Genossen so entrückt sein, daß diese nicht imstande sind, auch nur die leiseste Spur von Ihnen zu finden. Kommen Sie! Ich möchte nicht, daß Sie noch einmal zurückkehren und auch nur ein Wort mit jemandem wechseln, der dieselbe Luft mit Ihnen geatmet hat, die so voll Pest und Tod für Sie ist. Folgen Sie mir, so lange es noch Zeit ist und wo sich jetzt die beste Gelegenheit für Sie bietet.«
»Reden Sie ihr zu, ich glaube, sie schwankt und wird uns folgen«, flüsterte die junge Dame ihm zu.
»Ich fürchte, es ist nicht so«, erwiderte der alte Herr.
»Nein, Sir, ich tue es nicht«, versetzte Nancy nach einem kurzen Kampf mit sich selbst. »Ich bin zu sehr an meine Gefährten gefesselt. Ich verabscheue mein bisheriges Leben und hasse es, aber ich kann sie nicht verlassen. Ich bin schon zu weit gegangen, als daß ich noch umkehren könnte.« Sie schauderte. »Die alte Furcht kommt wieder über mich«, sagte sie leise. »Ich muß heim.«
»Heim?« wiederholte die junge Dame, das Wort nachdrücklich betonend.
»Jawohl, heim. Zurück in ein Heim, das ich mir selber aufgebaut habe ein ganzes Leben hindurch. Und gehen Sie, gehen Sie jetzt. Wenn ich irgendeinen Dienst geleistet habe, so verlange ich dafür nur, daß Sie mich jetzt verlassen und mir nichts in den Weg legen.«
»Es ist nutzlos«, sagte der alte Herr seufzend. »Wir gefährden nur ihre Sicherheit, wenn wir sie noch länger aufhalten.«
»Jawohl«, drängte Nancy; »vielleicht bin ich schon zu lange hier gewesen.«
»Welches Ende«, jammerte die junge Dame, »wird diesem armen Geschöpf noch bevorstehen.«
»Welches Ende?« wiederholte Nancy. »Sehen Sie dort, Fräulein. Schauen Sie auf den dunklen Strom hin. Wie oft haben Sie schon von solchen gelesen, wie ich eine bin, die in die dunklen Wasser hineingesprungen sind und niemand zurückgelassen haben, der nach ihnen fragte oder sie beweint. Nach Jahren erst oder schon nach Monaten, – jedenfalls – ein solches Ende werde auch ich nehmen.«
»Bitte, sagen Sie doch so etwas nicht«, fiel ihr die junge Dame schluchzend in die Rede.
»Sie werden niemals erfahren, welches Ende ich genommen habe, liebes Fräulein. Gott verhüte, daß Sie derlei schreckliche Dinge überhaupt je erfahren«, antwortete Nancy. »Und jetzt: gute Nacht, gute Nacht.«
Der alte Herr wendete sich zum Gehen.
»Nehmen Sie wenigstens diese Börse hier«, rief die junge Dame Nancy nach, »damit Sie in den Stunden der Not noch etwas haben.«
»Nein«, lehnte Nancy ab. »Was ich getan habe, geschah nicht um des Geldes willen. Ich will nicht, daß Sie sich mitdiesem Gedanken von mir trennen. Aber, wenn Sie mir etwas geben wollen, bitte – nein, nein nicht einen Ring – Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch, etwas möchte ich haben, das ich behalten kann mit dem Gedanken, daß es Ihnen gehört hat, liebes Fräulein. So. Ich danke. Und segne Sie der liebe Gott dafür. Gute Nacht, gute Nacht.«
Man hörte den Schall ihrer sich entfernenden Schritte. Gleich darauf wurden die junge Dame und ihr Begleiter oben auf der Brücke sichtbar.
»Horch«, rief die junge Dame, »hat sie nicht gerufen? Mir war als hätte ich ihre Stimme gehört.«
»Nein, liebes Fräulein«, versetzte Mr. Brownlow und schüttelte traurig den Kopf. »Sie hat sich nicht gerührt und wird sich auch nicht rühren, bis wir weg sind.«
Als Rose Maylie zögernd stehenblieb, legte der alte Herr ihren Arm in den seinen und führte sie mit sanfter Gewalt hinweg.
Als sie verschwunden waren, brach Nancy zusammen und sank auf eine der Steinstufen hin, um der Qual ihres Herzens in bittern Tränen Luft zu machen.
Nach einer Weile stand
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