Oliver Twist
weiter verfolgen.«
»Dös müssen S’ dem Herrn Kommissär sagen«, brummteder Mann. »Der Herr Kommissär wird gleich frei sein. Na, kumm amal her, kleiner Galgenvogel.«
Damit packte der Mann Oliver am Kragen und sperrte ihn in den erwähnten Keller. Es war dies eine Art Schacht, der nur so strotzte von Unrat und Schmutz.
Der alte Herr sah ebenso bekümmert aus wie Oliver selbst, als der Schlüssel im Schlosse kreischte, und warf mit einem Seufzer einen Blick auf das Buch, das die unschuldige Veranlassung zu dem ganzen Unheil gewesen war.
»Es liegt etwas in dem Gesicht des Jungen«, murmelte der alte Herr und rieb sich nachdenklich mit dem Buchdeckel das Kinn, »etwas, was mich tief ergreift und rührt. Er ist vielleicht ganz unschuldig. Aussehen tut er danach. – Übrigens«, rief der alte Herr plötzlich und sah nachdenklich zum Himmel empor, »an wen erinnern mich doch nur seine Züge?«
Eine Berührung an der Schulter weckte ihn aus seinen Betrachtungen. Gleich darauf ersuchte ihn der Mann mit den Schlüsseln, ihm in die Wachstube zu folgen. Hastig klappte der alte Herr das Buch zu und stand in der nächsten Minute vor dem berühmten Polizeikommissär Mr. Fang. »Hier mein Name und meine Adresse, Sir«, sagte er, verbeugte sich höflich und überreichte dem Gewaltigen seine Karte. Ärgerlich über die Störung blickte Mr. Fang, der soeben eine Zeitung studiert hatte, auf und fragte: »Wer sind Sie?«
Einigermaßen überrascht deutete der alte Herr auf seine Karte.
Verächtlich stieß der Kommissär die Karte zurück. »Gerichtsdiener, lesen Sie, wer dieser Mensch ist.«
»Ich heiße Brownlow«, fiel der alte Herr mit einer Höflichkeit, die stark von der Grobheit des Polizeibeamten abstach, ein, »Sie werden wohl gestatten, daß ich mich nachdem Namen des Gerichtsbeamten erkundige, der einem achtbaren Bürger ohne jede Veranlassung in diesem Lokal Beleidigungen ins Gesicht wirft.«
»Gerichtsdiener«, rief Mr. Fang und legte seine Zeitung weg, »was liegt gegen den Menschen vor?«
»Gegen ihn nichts, Euer Gnaden«, erwiderte der Diener. »Er ist der Ankläger dieses Jungen.«
»So, dieses Jungen, so«, sagte Mr. Fang und musterte Mr. Brownlow vom Kopf bis zu den Füßen verächtlich. »Beeidigen Sie ihn.«
»Ehe man mich vereidigt, muß ich bitten, die Sache erklären zu dürfen«, protestierte Mr. Brownlow. »Ich würde niemals geglaubt haben, wenn es mir nicht selbst widerfahren wäre, daß –«
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang gebieterisch.
»Das werde ich nicht tun, Sir«, opponierte der alte Herr.
»Sie schweigen augenblicklich, oder ich lasse Sie hinauswerfen«, schrie Mr. Fang. »Sie sind ein unverschämter frecher Kerl. Wie können Sie sich erdreisten, in dieser Weise mit mir zu sprechen!«
»Was!« rief der alte Herr, vor Zorn errötend.
»Vereidigen Sie den Kerl!« befahl Mr. Fang. »Ich will weiter nichts hören.«
Mr. Brownlow war aufs äußerste entrüstet, überlegte sich aber, daß er Oliver nur schaden müsse, wenn er weiter so energisch auftrete, unterdrückte daher seinen Ärger und ließ sich ruhig vereidigen.
»Nun«, fragte Mr. Fang, »was liegt gegen den Burschen vor? Was haben Sie vorzubringen, Sir?«
»Ich stand vor einem Bücherladen«, begann Mr. Brownlow.
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang. »Wo ist der Wachmann?So. Hier. Beeidigen Sie den Wachmann. Also, Wachmann, was hat’s gegeben?«
Der Polizeimann berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er Oliver verhaftet, durchsucht, aber nichts bei ihm gefunden habe, und wie alles weiter gekommen sei.
»Sind Zeugen da?« fragte Mr. Fang.
»Nein, Euer Gnaden.«
Einige Minuten saß der Kommissär schweigend da, dann wandte er sich zu Mr. Brownlow und sagte mit steigendem Ärger:
»Wollen Sie jetzt hier aussagen, was Sie gegen den Jungen vorzubringen haben, oder wollen Sie es nicht? Man hat Sie vereidigt. Wenn Sie Ihre Aussage verweigern sollten, lasse ich Sie wegen Irreführung der Behörden bestrafen, verlassen Sie sich darauf – ich schwör’s bei –«
Bei was oder bei wem er es beschwören wollte, kam nicht heraus, denn im richtigen Moment husteten der Schreiber und Schließer so laut sie konnten, und außerdem ließ ersterer ein schweres Buch zu Boden fallen und verhinderte, daß man den Fluch verstehen konnte.
Des öfteren unterbrochen und wiederholt beschimpft, konnte Mr. Brownlow endlich die nötigen Angaben machen und schloß mit dem Bemerken, er sei im ersten Augenblick dem Jungen
Weitere Kostenlose Bücher