Oliver Twist
wie gelähmt da. Dann lief er erschreckt davon, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Das alles dauerte kaum eine Minute. Im selben Augenblick, als Oliver zu laufen anfing, griff der alte Herr in seine Tasche und drehte sich, da er sein Schnupftuch vermißte, um. Er sah Oliver davonlaufen, hielt ihn natürlich für den Dieb und schrie: »Haltet den Dieb« und lief ihm mit dem Buch in der Hand nach. Kaum hörten der Baldowerer und Charley Bates seinen Ruf, als auch sie aus ihrer Ecke wieder hervorkamen und, um den Verdacht von sich abzulenken, laut in das bereits allgemein werdende Geschrei der Straße: »Haltet den Dieb« einstimmten. So ein Ruf »Haltet den Dieb, haltet den Dieb« hat eine magische Wirkung. Der Kaufmann springt hinter dem Ladentisch hervor, der Fuhrmann vom Wagen herunter, der Fleischer wirft seine Mulde weg und Bäcker seinen Brotkorb, der Milchmann läßt seinen Eimer stehen, der Laufbursche verliert sein Paket. Jeder wirft weg, was ihn am Laufen hindert. Der Schuljunge seine Marmeln, der Maurer seine Kelle, das Kind seinen Gummiball, und tobend, kreischend und brüllend geht die wilde Jagd um die Ecke. Die Hunde bellen und jagen einher und verscheuchen die Hühner, und Straßen und Plätze und Höfe widerhallen von dem Ruf: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb.« Bei jeder Straßenbiegung wächst die Menge an. Dahin laufen sie und patschen durch Pfützen und Rinnsteine. Fenster fliegen auf, und vorwärts, immer vorwärts stürzt der Knäuel. Alles kreischt vor Freude:»Haltet den Dieb.« Wenn sie den Armen endlich haben, zu Boden geworfen liegt er da, und die Menge umdrängt ihn. Und jeder trachtet, ihm noch einen Hieb zu versetzen. Weg da, Platz da! Wo ist der Herr? Da kommt er jetzt die Straße herunter, Platz für den Herrn. »Ist das der Dieb, Sir?«
»Ja.«
Von Schmutz bedeckt und blutüberströmt lag Oliver da und starrte in den Haufen der ihn umringenden Gesichter. Da drängte man den alten Herrn vor ihn hin.
»Ja«, sagte der Herr, »ich fürchte, es ist der Junge.«
»Warum denn – fürchten«, murmelten einige. »Um den ist nicht schade.«
»Armer Junge«, sagte der Herr, »er hat sich wohl weh getan?«
»Ich hab’ ihm eine versetzt«, meldete sich ein baumlanger Strolch, »i bin ihm mit der Faust übers Maul g’fahren; i war’s, der wo ihn aufg’halten hat, Herr.«
Und grinsend griff der Lümmel an seinen Hut, ein Trinkgeld erwartend. Aber der alte Herr warf ihm nur einen bitterbösen Blick zu und sah sich ängstlich um, als liefe er selbst am liebsten davon, und er würde es wahrscheinlich auch getan und dadurch eine neue Hetzjagd veranlaßt haben, wenn sich nicht ein Polizeimann – wie immer in solchen Fällen – als allerletzter eingefunden und Oliver am Kragen gepackt hätte.
»Heda, aufgestanden«, sagte der Polizist grob.
»Ich bin es doch nicht gewesen, Sir; wirklich, ich war es nicht. Es waren zwei andere Jungens«, rief Oliver entsetzt, die Hände faltend und verstört um sich blickend. »Irgendwo hier herum müssen sie sich versteckt haben.«
»Na, hier herum g’wiß nicht«, sagte der Polizeimann, und wenn er seine Worte auch ironisch meinte, so hatteer doch im allgemeinen recht, denn der Baldowerer sowie Charley Bates hatten sich längst absentiert. »Aufgestanden jetzt!«
»Tun Sie ihm nichts zuleide«, sagte der alte Herr mitleidig.
»Na na, davon kann ka Red sein«, antwortete der Polizeimann und riß Oliver fast die Jacke vom Leib. »Marsch vorwärts, dich kenn’ ich schon. Wirst gleich aufstehen, Diebslümmel.«
Mühsam erhob sich Oliver vom Boden und wurde am Kragen im schnellsten Tempo durch die Straße geschleift. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her, und jubelnd begleitete sie die Gassenjugend zum Kommissariat.
ELFTES KAPITEL
Der Polizeikommissär Mr. Fang zeigt sich als außerordentlich tüchtiger Justizbeamter
Als der Zug auf der Wache anlangte, wurde Oliver vorläufig in eine Art Keller eingesperrt, der nur so starrte vor Schmutz. Ein vierschrötiger Kerl mit einem Backenbart und einem Bündel Schlüssel in der Hand trat vor. »Was gibt’s denn schon wieder?« fragte er mürrisch.
»Ein junger Taschendieb«, antwortete der Polizist, der Oliver am Kragen hielt.
»Sind Sie der Bestohlene, Sir?« fragte der Mann mit den Schlüsseln.
»Ja«, sagte der alte Herr. »Aber ich kann nicht genau angeben, ob es auch wirklich der Junge war, der mir das Taschentuch gestohlen hat. Ich – hm – möchte am liebsten den Fall nicht
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