Oliver Twist
erfülle. Und er drückte sein Gesicht in die Kissen und betete inbrünstig zu Gott.
Allmählich verfiel er in einen tiefen ruhigen Schlummer, den nur das Gefühl, schweres Leid hinter sich zu haben, verleiht; – jene friedliche Ruhe, aus der zu erwachen Schmerz bedeutet. Wäre sie der Tod, wer würde gern daraus wiedererwachen zu all den Kämpfen und Mühsalen des Lebensund zu der Bangigkeit vor der Zukunft, zu all den trüben Erinnerungen, die aus der Vergangenheit wieder auferstehen!
Es war schon lange heller Tag, als Oliver die Augen aufschlug, und er fühlte sich froh und zufrieden, war doch die Krisis glücklich überstanden, und er gehörte wieder der Welt an.
Nach drei Tagen war er wieder fähig, in einem Lehnstuhl zu sitzen, den man ihm gut mit Kissen ausgestopft hatte und den Mrs. Bedwin selbst die Treppen hinunterschleppte in das kleine Haushälterinnenstübchen, das sie bewohnte. Dort saß nun Oliver neben dem Ofen, und die gute alte Dame setzte sich zu ihm und fing vor Freude, ihn wieder so wohl zu sehen, laut an zu weinen.
»Achte nicht auf mich, liebes Kind«, sagte sie. »Ich weine mich nur gern von Zeit zu Zeit ein bißchen aus; jetzt ist es schon vorüber, und ich bin wieder ganz froh und vergnügt.«
»Sie sind so freundlich gegen mich«, sagte Oliver.
»Denke nicht darüber nach, mein Kind«, wehrte ihm die alte Dame. »Denke lieber an deine Suppe, denn es ist höchste Zeit, daß du wieder einmal etwas ißt. Der Herr Doktor hat gesagt, Mr. Brownlow könne heute früh vorsprechen und dich besuchen, und da mußt du ihm ein glückliches und zufriedenes Gesicht zeigen, damit er sich darüber freut.« Dann wärmte die alte Dame in einem Kessel ein wenig Fleischbrühe, die nach Olivers Ansichten an Kraft für mindestens dreihundertfünfzig Armenhäusler – gering geschätzt – ausgereicht hätte.
»Siehst du gerne Bilder, mein Kind?« fragte die alte Dame, als sie sah, wie Oliver gespannt auf ein Porträt blickte, das ihm gegenüber an der Wand hing.
»Ich weiß es nicht, Mrs. Bedwin«, sagte Oliver, ohne dieAugen von dem Bild wegzuwenden. »Ich habe so wenig gesehen, daß ich es kaum zu sagen weiß. Was für ein schönes freundliches Gesicht die Dame dort hat.«
»Ach«, seufzte die alte Frau, »die Maler machen doch die Damen immer viel hübscher, als sie wirklich sind. Na ja, sonst würde sich auch niemand malen lassen, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man jede Ähnlichkeit hervorbringt, hätte wissen müssen, daß er damit kein Geschäft machen kann. Es ist ein viel zu ehrliches Handwerk. Viel zu ehrlich«, wiederholte die alte Dame und lachte herzlich über ihren Scharfsinn.
»Ist das – das Bild ähnlich, Mrs. Bedwin?« fragte Oliver.
»Ja«, sagte die alte Dame und blickte einen Augenblick von der Suppe auf. »Es ist doch ein Porträt.«
»Von wem?«
»Das kann ich dir wirklich nicht sagen, Kind«, antwortete die alte Dame gut gelaunt. »Es hat wohl mit niemand Ähnlichkeit, den ich oder du kennen. Es scheint dich zu interessieren, Kleiner?«
»Es ist so wunderschön.«
»Du fürchtest dich doch nicht am Ende davor?« fragte die alte Dame, als sie bemerkte, daß etwas wie Leid oder Schmerz im Blick Olivers lag.
»O, nein, nein«, beteuerte Oliver rasch. »Aber ihre Augen sehen so betrübt drein, und wo immer ich hinschaue, immer scheinen sie auf mich gerichtet zu sein. Das Herz schlägt mir dabei«, setzte er mit leiser Stimme hinzu. »Gerade, als ob die Dame noch am Leben wäre und mit mir sprechen wollte, aber nicht könnte.«
»Gott im Himmel«, rief die alte Dame erstaunt, »was sprichst du denn da, Kind? Du bist noch sehr angegriffen von deiner Krankheit. Ich will dir den Stuhl auf die andre Seite rollen, dann siehst du es nicht immer. – So«, sagtesie und ließ ihren Worten die Tat folgen, »jetzt kannst du’s nicht mehr sehen.«
Aber immer noch sah Oliver im Geiste das Bild vor sich, schwieg jedoch darüber, um der alten Dame keinen Kummer zu bereiten, sondern machte ein freundliches glückliches Gesicht. Mrs. Bedwin, die sich darüber sehr freute, schüttete in die Suppe Salz, brockte geröstete Semmelschnitten hinein und reichte sie dann Oliver, der sie heißhungrig verschlang. Er hatte kaum den letzten Löffel geschlürft, als es leise an die Türe klopfte und Mr. Brownlow eintrat.
Wie gewöhnlich hatte der alte Herr die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände in den Schößen seines Schlafrockes verborgen. Er warf jetzt einen
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