Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
allerdings lief sie weniger Gefahr als ihre liebreizende Kollegin, denn sie war erst vor kurzem nach der ein wenig abgelegenen, aber nichtsdestoweniger vornehmen Vorstadt Ratcliffe in der Nähe von Field Lane übersiedelt und brauchte daher nicht zu befürchten, irgendeinem unliebsamen Bekannten zu begegnen.
    Nachdem sie sich eine weiße Schürze über ihr Kleid gebunden und die falschen Locken unter einem Strohhut glücklich verstaut hatte – zwei Garderobestücke, mit denen sie sich aus der unerschöpflichen Schatzkammer des Juden versorgte –, traf sie Anstalten, den übernommenen Auftrag auszuführen.
    »Warten Se noch e bissel«, sagte der Jude und brachteeinen kleinen Deckelkorb herbeigeschleppt, »tragen se das da in der Hand, es sieht anständiger aus, mein Kind.«
    »Einen Hausschlüssel könnten Sie ihr auch noch geben, – den kann sie in der anderen Hand halten«, riet Sikes, »so was macht sich ungemein solid.«
    »Ich soll so leben«, rief der Jude entzückt und hing der jungen Dame rasch einen Hausschlüssel an den Zeigefinger. »Gott, wie Ihnen das fein steht, mein Kind«, jubelte er und rieb sich begeistert die Hände.
    »O Gott, o Gott, mein armer süßer kleiner Bruder«, rief Nancy, brach sofort in Tränen aus und umkrampfte den kleinen Deckelkorb und den Hausschlüssel mit den Händen. »Wo ist er nur hingekommen, wo haben Sie ihn hingebracht, ach, haben Sie doch Mitleid und sagen Sie mir, Euer Gnaden, was Sie mit dem armen Jungen gemacht haben, bitte, bitte.«
    Nachdem Nancy zum größten Entzücken den Anwesenden diese Rolle tiefsten inneren Wehs vorgemimt, nickte sie den Herren lächelnd zu und lief hinaus.
    »Hihihi«, lachte der Jude, »is das e gescheite Schickse.« Dann wendete er sich seinen jungen Freunden zu, schüttelte gewichtig das Haupt und ermahnte sie stumm, dieses leuchtenden Beispiels eingedenk zu sein.
    »Sie ist eine Ehre ihres Geschlechtes«, sagte Mr. Sikes, füllte sein Glas und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Auf ihr Wohl. Ich wollte, sie wären alle so wie die.«
    Inzwischen hatte die junge Dame bereits ein hübsches Stück Wegs zum Polizeiamt zurückgelegt und langte bald darauf, allerdings mit einer gewissen natürlichen Befangenheit, die sich aus dem Umstande erklärte, daß sie allein und schutzlos durch die Straßen gegangen, an ihrem Ziele an. Durch das Hintertor eintretend, klopfte sie leise mit ihrem Hausschlüssel an eine Zellentür und horchte.Als sich nichts hören ließ, hüstelte sie und lauschte dann wieder. Da immer noch keine Antwort erfolgte, rief sie endlich:
    »Nolly, lieber Klener, Nolly, hörst de nich?«
    Es war aber niemand drin als ein armer Strolch ohne Schuhe, den man verhaftet hatte, weil er öffentlich die Flöte geblasen und jetzt von Mr. Fang wegen dieses Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung zu einem vierwöchentlichen Aufenthalt in der Besserungsanstalt gewonnen worden war. Der Treffliche hatte bei Fällung des Urteilsspruches den belehrenden Ausspruch getan, der Kerl könne, wenn er so viel Atem habe, seine Kräfte am besten in der Tretmühle verwenden. Der Strolch war jetzt innerlich damit beschäftigt, den Verlust seiner Flöte zu beklagen, die man zugunsten des Kriminalmuseums mit Beschlag belegt hatte. Nancy ging zur nächsten Zelle und klopfte dort.
    »Ja? Was ist?« rief eine schwache Stimme.
    »Is ’n klener Junge drin?« fragte Nancy mit einem einleitenden Seufzer.
    »I wo«, antwortete die Stimme, »Jott bewahre.«
    Sie gehörte einem Landstreicher von ungefähr fünfundvierzig Jahren an, den man ins Gefängnis gesteckt hatte, wahrscheinlich, weil er nicht die Flöte geblasen und überhaupt alles versäumt hatte, was zur Erwerbung seines Lebensunterhalts von Vorteil gewesen wäre. In der Zelle nebenan saß wieder ein Mensch, der ebenfalls eingesperrt werden sollte, weil er ohne Hausierschein mit Blechpfannen hausiert hatte, also doch etwas zur Erwerbung seines Lebensunterhaltes getan hatte, allerdings ohne die Steuerbehörde dabei genügend zu berücksichtigen.
    Da keiner dieser Gefangenen auf den Namen Oliver antwortete oder über ihn etwas zu sagen wußte, wendete sich Nancy an den Schließer mit der gestreiften Weste, wobei siehöchst eindrucksvoll von dem Hausschlüssel und dem Deckelkörbchen Gebrauch machte, und erkundigte sich nach ihrem lieben kleinen Brüderchen.
    »Hier is er nich, meine Liebe«, sagte der alte Mann.
    »Wo steckt er denn?« jammerte Nancy verzweifelt.
    »Na, der Gentleman hat ihn doch

Weitere Kostenlose Bücher