Oliver Twist
eingewickelt auf die Dielen nieder. Eine Zeitlang schien die Gesellschaft zu schlafen, das heißt: niemand rührte sich außer Barney, der ein paarmal aufstand, um Kohlen auf das Feuer zu schütten. Oliver verfiel in einen tiefen Schlummer, und es war ihm, als streife er noch immer durch die finstern Gassen oder wandre über die Kirchhöfe. Plötzlich schreckte er auf, geweckt von dem Geräusch, das Toby Crackit machte, als er auf die Füße sprang und rief: es sei halb zwei. Sofort waren auch die beiden anderen auf den Beinen. Sikes und sein Freund hüllten sich Hals und Gesicht in große Tücher und zogen ihre Mäntel an. Barney schloß einen Wandschrank auf und langte verschiedene Gegenstände daraus hervor, und beide stopften sich damit eilig die Taschen voll.
»Die Bleispritzen, Barney«, mahnte Toby Crackit.
»Do hier sein welche«, erwiderte Barney und reichte ihm ein paar Pistolen. »Geladen hab’ jach se selber.«
»Stimmt«, murmelte Toby, nachdem er die Waffen untersucht hatte. »Und jetzt die Chlamones.« Der Jude reichteihm einen Bund mit Dietrichen. »Und die Bohrer und die Laternen nicht vergessen«, sagte Toby und steckte ein kleines Brecheisen zu sich.
»Alles in Ordnung«, murrte Sikes. Barney reichte einem jeden einen derben Knittel und half dann Oliver in seinen Mantelkragen. – »Also los! Palisieren wir«, sagte Sikes und faßte Oliver wieder an der Hand. Mechanisch ließ der arme Junge alles mit sich geschehen.
»Toby, nimm ihn an der andern«, knurrte Sikes. »So, jetzt schau mal raus, Barney!«
Der Jude ging zur Türe hinaus und kam gleich darauf mit der Meldung zurück, es sei alles ruhig. Oliver in der Mitte, schritten die beiden Strolche aus dem Haus. Barney schloß sofort hinter ihnen ab. Es war pechfinstere Nacht. Der Nebel war noch dichter und schwerer als in den Abendstunden und die Luft so feucht, trotzdem kein Regen fiel, daß Oliver Haar und Augenbrauen nach wenigen Minuten hart gefroren waren von der schneidenden Kälte. Wortlos schritten sie über die Brücke. Dann schlugen sie die Richtung auf die Lichter der Stadt zu ein und hatten, scharf ausschreitend, Chertsey bald erreicht.
»Nur immer grad mitten durch die Stadt«, flüsterte Sikes. »Heut ist niemand mehr auf, der uns sehen könnte.«
Toby brummte etwas, und sie eilten durch die Hauptstraße der kleinen Stadt, die zu dieser späten Nachtstunde vollständig menschenleer dalag. Von Zeit zu Zeit schimmerte ein trübes Licht aus irgendeinem Fenster heraus, und heiseres Hundegebell unterbrach zuweilen die nächtliche Stille. Als die Kirchturmuhr zwei schlug, hatten sie die Stadt hinter sich. Immer noch ihre Eile beschleunigend, bogen sie in eine Straße ein, die sich linker Hand entlangzog. Nachdem sie ungefähr eine Viertelmeile zurückgelegt hatten, blieben sie vor einem vereinzelten, von einerMauer umgebenen Hause stehen. Ohne sich Zeit zu lassen, schwang sich Toby Crackit hinauf.
»So! Jetzt den Jungen«, flüsterte er, »heb ihn rauf, Bill, ich werd ihn schon festhalten.«
Noch eh Oliver Zeit hatte, sich genauer umzublicken, hatte Sikes ihn bereits unter den Armen gefaßt, und wenige Sekunden darauf lag er mit Toby zusammen auf der anderen Seite der Mauer im Gras. Sikes folgte ihnen auf dem Fuß. Behutsam schlichen sie zum Hause hin.
Vor Schreck und Angst fast von Sinnen, erkannte Oliver, daß es sich um einen Einbruch oder Raub handeln müsse. Er rang die Hände und stieß unwillkürlich einen Ruf des Schreckens aus. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirne, und die Glieder versagten ihm den Dienst. Zitternd brach er in die Knie.
»Aufgestanden«, flüsterte Sikes, schäumend vor Wut, und riß seine Pistole aus der Tasche. »Aufgestanden, sag ich, oder ich spritz dir das Gehirn an die Wand.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich gehen«, jammerte Oliver, »lassen Sie mich davonlaufen und lieber auf freiem Feld sterben. Ich will nie wieder nach London kommen. Nie. Ich versprech es Ihnen. Haben Sie Mitleid mit mir und zwingen Sie mich nicht, einzubrechen. Um Gottes Barmherzigkeit willen, Gnade, Gnade!«
Er hörte am Knacken, daß Sikes den Hahn spannte, aber gleich darauf schlug ihm Toby die Pistole aus der Hand, hielt Oliver den Mund zu und schleppte ihn zum Hause hin.
»Das Maul gehalten«, krächzte er dabei heiser. »So was können wir hier nicht brauchen. Ein Wort noch, und ich schlag dir den Bregen ein. Das macht keinen Lärm und ist ebenso sicher wie das Schießeisen. Hierher, Bill!
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