Oliver Twist
Nacht für Leute, die ein gutes Dach über den Häuptern haben und eine reichliche Mahlzeit. Da setzen sie sich dann um das helle Kaminfeuer und danken dem lieben Gott, daß er ihnen ein Heim gegeben hat und dem Obdachlosen, Hungrigen eine Nacht, um sich hinzulegen und zu sterben. So sah es draußen aus, als Mrs. Cornay, die Mutter des Arbeitshauses, sich vor ein gemütliches Kaminfeuer in ihrer kleinen Wohnstube niedersetzte und voll innerer Freude auf ein kleines rotes Tischchen blickte, aufdem ein Teebrett von ansehnlicher Größe stand, bedeckt mit alldem Zubehör für wohlbereitete Mahlzeiten, an denen sich Matronen gütlich zu tun lieben.
Mrs. Cornay stand eben im Begriff, sich mit einem Schälchen Tee zu erquicken, und wie sie so das kleine Kesselchen auf dem Feuer ein Liedchen singen hörte, durchdrang sie ein Gefühl so großer innerer Befriedigung, daß sie holdselig lächeln mußte.
»Ja wahrhaftig«, sagte sie, stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte sinnend ins Feuer, »ja wahrhaftig, wir haben allen Grund, dankbar zu sein. Wirklich, alle alle Ursache. Wenn wirs nur anerkennen wollten.«
Und bekümmert schüttelte sie den Kopf, als beklage sie die geistige Blindheit aller der Armen aufs bitterste, die diese Erkenntnis nicht hätten. Dann schritt sie zur Bereitung des Tees, indem sie vorerst mit einem silbernen Löffel tief in eine zinnerne Teebüchse fuhr.
Wie geringe Dinge doch das Gleichgewicht unsres schwachen Gemütes stören können: der schwarze Teetopf war sehr klein und füllte sich bald. So kam es, daß das Wasser überlief und ein bißchen die Hand der trefflichen Frau verbrannte.
»Himmelkreuzdonnerwetter!« rief sie und setzte die Kanne wieder geschwind auf den Rost zurück. »Das verdammte Ding da! Nicht einmal ein paar Tassen kann man hineinschütten. Wozu das wohl nütze sein soll? So was«, sagte sie und seufzte tief auf, »so was kann wieder nur einem armen einsamen Geschöpf wie mir passieren. O Gott, o Gott.«
Dann ließ sie sich in den Stuhl zurückfallen und gedachte wiederum, die Ellbogen auf den Tisch stützend, ihrer Verlassenheit. Der kleine Teekessel und die vereinsamte Tasse hatten in ihr traurige Erinnerungen an Mr. Cornay, dervor ungefähr fünfundzwanzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, wachgerufen.
»Nie wieder werde ich einen andern bekommen«, sagte sie mißmutig und kummervoll. »Nein, niemals. Gar so einen, wie der erste war.«
Ob sich ihre Bemerkung auf den Ehegatten oder auf den Kessel bezog, läßt sich nicht mehr feststellen. Vermutlich dürfte es der letztere gewesen sein, denn Mrs. Cornay blickte ihn bei diesen Worten an und schenkte sich ein. Sie hatte kaum an der ersten Tasse genippt, als sie durch ein leises Klopfen an der Türe aus ihrem Sinnen aufgerüttelt wurde.
»Nur herein da, wer draußen ist«, rief sie scharf und spitzig. »Wahrscheinlich liegen wieder ein paar alte Weiber im Sterben. Das g’schieht doch immer, wenn ich grad den Tee trink. So bleiben S’ doch nicht stehen zwischen Tür und Angel, wo’s so kalt draußen ist. Haben S’ denn nicht verstanden? Was ist denn schon wieder los?«
»Nix, Madame, nix«, antwortete eine Männerstimme.
»O Gott, Sie sind’s, Mr. Bumble!« rief Mrs. Cornay, sogleich weit freundlicher als vorher.
»Zu dienen, Madame«, antwortete Bumble und blieb noch einen Augenblick draußen stehen, um Schuhe und Hut vom Schnee zu reinigen. Dann trat er ein, wie gewöhnlich in der einen Hand seinen Dreispitz und in der andern ein Bündel.
»Darf ich die Türe zumachen, Madame?«
Mrs. Cornay zierte sich ein wenig, da es am Ende doch nicht recht schicklich war, mit Mr. Bumble bei geschlossenen Türen zusammenzusein. Aber der Kirchspieldiener nahm ihr Zögern als Bejahung, und da es ihm ebenfalls sehr kalt draußen schien, klinkte er zu.
»Scheußliches Wetter, Mr. Bumble«, sagte die Armenmutter.
»Jawohl, scheußliches Wetter, Madame«, stimmte der Kirchspieldiener bei. »So das richtige Wetter, daß das Armenhaus dabei Konkurs ansagen könnte, Madame. An dem heutigen gebenedeiten Nachmittag haben wir nicht weniger als zwanzig Laib Brot und anderthalb Laib Käse verteilen müssen, und noch immer ist das Armenpack nicht zufrieden.«
»Natürlich! Wann wäre das je zufrieden, Mr. Bumble«, klagte die Armenmutter und nippte an ihrer Teetasse.
»Jawohl, Madame, sehr richtig«, erwiderte Mr. Bumble. »Hem. An einen einzigen Mann haben wir, bloß weil er eine Frau und eine starke Familie hat, ein ganzes
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