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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Pfand.«

DREISSIGSTES KAPITEL
    Was die Damen und Doktor Losberne von Oliver hielten
     
    Unter den redseligsten Versicherungen, daß die Damen durch den Anblick des Verbrechers nur angenehm überrascht sein würden, bot Doktor Losberne Miss Rose den Arm, Mrs. Maylie seine andre freie Hand und führte die beiden Damen mit umständlicher Galanterie die Treppe hinauf.
    »Nun«, flüsterte er und klinkte leise die Türe auf, »wollen wir hören, wie Sie wohl über ihn denken. Er hat sichin letzter Zeit nicht rasiert, sieht aber trotzdem nicht struppig aus. Warten Sie aber, bitte, noch. Ich will mich zuvörderst überzeugen, ob er auch in der Lage ist, Besuch zu empfangen.«
    Voranschreitend warf er einen Blick ins Zimmer, dann winkte er den beiden Damen, ihm zu folgen, und schloß hinter sich die Türe ab. Dann zog er behutsam die Vorhänge zurück und auf dem Bett lag – statt eines Einbrechers mit geschwärztem Gesicht, den die Damen zu erblicken gemeint hatten, ein bleiches abgezehrtes Kind in tiefem Schlaf. Der verwundete Arm Olivers, in Bandagen gelegt und vom Blut gereinigt, ruhte auf seiner Brust. Der Kopf war ihm über den andern Arm gesunken, der von seinem langen reichen Haar halb verdeckt war.
    Während Losberne im Anblick des Knaben versunken dastand, setzte sich Miss Rose ans Bett, beugte sich über Oliver und strich ihm leise das Haar aus der Stirn.
    Der Knabe bewegte sich und lächelte im Schlaf, als erwecke dieser Beweis von Mitleid und Teilnahme einen lieblichen Traum in seiner Seele.
    »Ich bin außer mir vor Staunen«, flüsterte die alte Dame. »Dieses arme Kind kann doch nie und nimmermehr ein Räuber oder Einbrecher sein.«
    »Sünde und Laster«, seufzte der Arzt und ließ den Vorhang wieder zufallen, »schlagen ihren Wohnsitz in gar manchem Tempel auf. Sie erscheinen uns oft leider in lieblicher Gestalt.«
    »Aber doch wohl nicht bei solcher Jugend?« fiel Miss Rose ein.
    »Meine teure Miss«, antwortete der Arzt und schüttelte traurig den Kopf, »das Verbrechen ist nicht nur auf das Alter beschränkt. Oft sind Gottes jüngste und schönste Geschöpfe häufig die größten Verbrecher.«
    »Können Sie glauben, daß dieses zarte Kind sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit zugesellt hat?« fiel ihm Miss Rose in die Rede.
    Der Arzt schüttelte den Kopf mit einer Miene, als ob er so etwas sehr gut für möglich hielte, und führte die Damen in das anstoßende Zimmer, damit der kleine Patient, wie er sagte, nicht aufgeweckt würde.
    »Aber selbst wenn er ein Verbrecher ist«, fing Miss Rose wieder an, »bedenken Sie doch seine Jugend! Vielleicht hat er nie eine liebevolle Mutter gehabt, vielleicht nicht einmal ein Elternhaus gekannt, und wie wahrscheinlich ist es, daß er infolge schlechter Behandlung, Schlägen oder Hunger gezwungen war, sich Menschen anzuschließen, die ihn zum Verbrecher gemacht haben. Tante, liebe Tante, bedenke doch, ehe du zugibst, daß der arme Kleine ins Gefängnis geschleppt wird, – daß man ihm doch zuerst Gelegenheit zur Besserung geben müßte. Du hast mich erzogen und mich nie fühlen lassen, daß auch ich ein Waisenkind war, das leicht in dieselbe Lage hätte geraten können und jetzt ebenso hilflos und schutzlos dastünde wie dieser arme Junge – bitte, habe Erbarmen mit ihm, ehe es zu spät ist.«
    »Mein liebes Kind«, sagte die alte Dame und schloß das weinende Mädchen in ihre Arme, »glaubst du denn, ich könnte ihm auch nur ein Haar krümmen?«
    »O nein«, antwortete Miss Rose eifrig.
    »Nein, nein, gewiß nicht«, versicherte die alte Dame. »Mein Leben neigt sich seinem Ende zu, und möge auch mir Erbarmen und Gnade zuteil werden, wie ich sie andern erweise. Was kann ich tun, um ihn zu retten, Herr Doktor?«
    »Ich will mir die Sache überlegen, Madame«, sagte der Arzt, »ich will mir’s überlegen.«
    Und Doktor Losberne steckte die Hände in die Taschen, ging im Zimmer auf und ab, schaukelte sich auf den Zehen und zog die Stirn in schwere Falten. Nach allerhand Ausrufen, wie: jetzt hab ich’s! und: nein, ich hab’s doch nicht, und nachdem er noch manches Mal auf und ab geschritten und die Stirne gerunzelt hatte, blieb er endlich stehen und sprach:
    »Ich glaube, die Sache wird sich machen lassen, wenn Sie mir unumschränkte Vollmacht geben, Giles und den Lausebengel, den Brittles, gehörig ins Bockshorn zu jagen; Giles ist ein ehrlicher, treuer Mensch und ein alter Diener Ihres Hauses, das weiß ich, und Sie können ihm ja nebenbei als

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