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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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unerschrockenem Schützen eine Belohnung zuteil werden lassen. Haben Sie dagegen nichts einzuwenden?«
    »Wenns nichts andres gibt, um das Kind zu retten«, sagte Mrs. Maylie.
    »Nein, ein andres Mittel gibt es nicht«, sagte der Doktor. »Nein, absolut kein andres. Mein Ehrenwort darauf.«
    »Dann gibt Ihnen meine Tante die gewünschte Vollmacht«, mischte sich Miss Rose, unter Tränen lächelnd, ins Gespräch. »Aber, bitte, verfahren Sie nicht zu hart mit dem armen Jungen, – nicht härter, als unumgänglich notwendig ist.«
    »Sie scheinen zu glauben, liebes Fräulein«, versetzte der Doktor, »jeder, nur Sie nicht, seien zu Hartherzigkeiten geneigt. Ich will nur um des heranwachsenden männlichen Geschlechts willen hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitleid in Anspruch nimmt, bei Ihnen werben kommt, wenn Sie sich in ähnlicher Gemütsverfassung befinden, mein Fräulein.«
    »Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser guter Brittles«, sagte Miss Rose errötend.
    »Nun, das ist nicht schwer«, meinte der Doktor undlachte herzlich, »aber kommen wir jetzt wieder zum Thema zurück. Wie ich glaube, wird der Junge in einer Stunde aufwachen, und wenn ich dem Polizeikerl, der gleich kommen wird, einschärfe, daß er den Patienten weder anreden noch sonstwie stören darf, ohne sein Leben zu gefährden, so wird alles gut ablaufen. Ich schlage Ihnen folgendes vor: ich frage den Jungen in Ihrer Gegenwart aus, und würden wir aus seinen Antworten zur Überzeugung kommen, daß er ein Schlingel ist, so überlassen wir ihn seinem Schicksal, ohne uns weiter um ihn zu kümmern. Meinen Sie nicht?«
    »Ach nein, Tante«, flehte Miss Rose.
    »Ach ja, liebste Tante«, scherzte der Doktor. »Also, ist es abgemacht?«
    »Der Junge kann gar nicht verstockten Sinnes sein. So sieht ein verhärteter Bösewicht nicht aus«, sagte die alte Dame, »das ist einfach unmöglich.«
    »Also gut«, versetzte der Doktor, »um so mehr Grund haben Sie, meinen Vorschlag anzunehmen.«
    Das Abkommen wurde getroffen, und alle drei setzten sich nieder und warteten, bis Oliver aufwachen würde. Es dauerte länger, als Mr. Losberne vorausgesagt hatte; es verging eine Stunde um die andre, und immer noch lag Oliver in festem bleischwerem Schlafe da. Es wurde Abend, und da erst konnte der menschenfreundliche Arzt den Damen die Nachricht bringen, der Junge sei endlich so weit bei Kräften, um eine Unterredung ohne Gefahr für seine Gesundheit aushalten zu können. Der Junge, sagte er, sei sehr krank und durch den Blutverlust sehr geschwächt, außerdem quäle ihn eine große Unruhe, eine Mitteilung zu machen, und daher sei es wohl besser, die Angelegenheit nicht bis zum nächsten Morgen hinauszuschieben, sondern sogleich mit dem Verhör zu beginnen.
    Die Unterredung war von langer Dauer. Oliver erzählte den dreien schlicht und einfach die traurige Geschichte seines bisherigen Lebenslaufes und mußte oft, von Schmerz und Schwäche überwältigt, innehalten. Der schauerliche Bericht der langen Reihe trostloser Leiden und Mißgeschicke, die hartherzige Menschen über ihn verhängt, hörte sich im Dunkel des Zimmers feierlich wie eine Anklage an.
    Olivers Kissen wurde in dieser Nacht von Frauenhänden geglättet, und Liebreiz und Sanftmut wachten über seinem Schlummer. Er fühlte sich ruhig und glücklich und wäre, wenn es hätte sein müssen, ohne Murren gestorben.
    Als die Unterredung zu Ende und fast augenblicklich darauf Oliver wieder fest eingeschlafen war, mußte sich der Doktor seine Augen trocknen und schimpfte lauter, als nötig war, über die Mißbill des Alters, die die Kurzsichtigkeit über die Menschen verhänge. Dann begab er sich hinab in die Küche, um einen Feldzug gegen Mr. Giles und die andern zu eröffnen.
    Der Polizeimann war eingetroffen, trug einen großen Stecken bei sich, hatte einen dicken Schädel, ein aufgedunsenes Gesicht und machte den Eindruck, als habe er soeben eine tüchtige Portion Bier hinter die Binde gegossen, – was übrigens tatsächlich der Fall war.
    Das Abenteuer der vergangenen Nacht beherrschte noch alle Gemüter, und Mr. Giles gab soeben eine langatmige Schilderung seiner Geistesgegenwart zum besten, als der Arzt eintrat, mit der Hand winkte und rief: »Still da, bleibt sitzen.«
    »Danke, Sir«, sagte Mr. Giles. »Die gnädige Frau hat uns Bier spendiert, Sir. Das ist der Grund, Sir, weshalb ich hier sitze und trinke.«
    Mr. Brittles murmelte beifällig dazu als Dolmetsch der anwesenden

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