Oliver Twist
retten.
Mitten in den Tumult hinein ertönte plötzlich eine sanfte, wohlklingende Frauenstimme: »Giles, Giles!«
»Hier bin ich, Miss, erschrecken Sie nicht, Miss, ich bin nicht verletzt; ich habe ihn schnell überwältigt, Miss«, antwortete Mr. Giles.
»So seien Sie doch still«, rief die Frauenstimme herunter, »Sie erschrecken meine Tante gerade so, wie es vorhin die Diebe getan haben. Ist der arme Bursche schwer verletzt?«
»Ganz fürchterlich, Miss«, rief Mr. Giles wonnetrunken hinauf.
»Es sieht aus, als ob er im Sterben läge, Miss!« schrie Mr. Brittles ihm nach. »Kommen Sie doch bitte herunter und sehen Sie ihn sich selber an.«
»So seien Sie doch still«, erwiderte die Damenstimme. »Warten Sie ruhig, bis ich mich mit meiner Tante ausgesprochen habe.«
Die Sprechende entfernte sich mit Schritten, so leise und zart, wie ihre Stimme war, kehrte aber bald mit dem Befehl wieder zurück, den Verwundeten behutsam die Treppe heraufzutragen und in Mr. Giles’ Stube niederzulegen. Brittles solle sofort den Pony satteln und nach Chertsey reiten, um von dort einen Polizisten und einen Doktor zu holen.
»Wollen Sie ihn sich nicht vorher ansehen, Miss?« fragte Mr. Giles stolz.
»Jetzt nicht, um Gottes willen nicht«, antwortete die junge Dame. »Der arme Bursche! Behandelt ihn recht freundlich, Giles; mir zuliebe.«
Der alte Diener sah zu der jungen Dame empor mit einem Blick so voll Stolz und Bewunderung, als wäre sie sein eigenes Kind. Dann beugte er sich über Oliver und half ihn fürsorglich die Treppe hinaufbringen.
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Handelt von den Bewohnern des Hauses
In einem mehr altmodisch bequemen als modern eleganten Zimmer saßen zwei Damen an einem gedeckten Frühstückstisch. Mr. Giles, von Kopf bis zu Fuß in feierliches Schwarz gekleidet, bediente sie. Er stand aufrecht zwischen dem Servier- und dem Frühstückstisch, das Haupt stolz zurückgeworfen, den linken Fuß vorgestellt und die rechte Hand im Busen, während er mit der linken den Präsentierteller hielt – kurz, wie ein Mann, der sich seiner Wichtigkeit und seiner Verdienste wohl bewußt ist.
Die eine der beiden Damen war hochbetagt, aber selbst der steiflehnige Eichensessel, in dem sie saß, konnte keine korrektere Haltung zeigen als sie. Sorgfältig gekleidet, wenn auch altmodisch, machte sie einen stattlichen und würdigen Eindruck, wie sie so, die Hände gefaltet, sich auf den Tisch stützte. Ihre Augen, vom Alter noch nicht getrübt, hingen aufmerksam an ihrer jugendlichen Gefährtin.
Die andre und wesentlich jüngere Dame stand in der vollen Blüte des Lebens, in jenem Alter, von dem man sagen kann, ohne sich einer Gotteslästerung schuldig zu machen, daß Engel in einer Gestalt wohnen müssen, wie sie diesem jungen Mädchen eigen war.
Kaum siebzehn Jahre alt, zierlich, mild und wahr, sah sie so schön aus, daß sie kaum mehr etwas Irdisches an sich hatte. Der Geist, der in ihren blauen Augen schimmerte,paßte weder zu ihrem Alter noch zu dieser Welt, und das Lächeln in ihren Zügen war so recht für häusliches Glück und Frieden geschaffen. Emsig mit den kleinen Obliegenheiten beschäftigt, die die Bedienung an der Tafel erforderte, erhob sie jetzt die Augen, um die alte Dame anzusehen, die den Blick nicht von ihr wandte.
»Brittles ist wohl schon eine Stunde weg, nicht wahr?« sagte die alte Dame nach einer Pause.
»Seit einer Stunde und zwölf Minuten, Madame«, antwortete Mr. Giles und warf einen Blick auf die silberne Taschenuhr, die er an einem schwarzen Bande aus seiner Weste hervorzog.
»Er ist immer sehr langsam«, bemerkte die alte Dame.
»Brittles war’s von jeher, Madame«, erwiderte der Diener.
»Ich glaube, statt sich zu bessern, wird es mit ihm von Tag zu Tag schlechter«, sagte die alte Dame.
Die jüngere lächelte freundlich.
Mr. Giles überlegte offenbar, ob er mitlächeln sollte oder nicht, da fuhr eine Droschke am Gartentor vor, ein alter Herr sprang heraus, stürmte die Treppe herauf, ins Zimmer herein und rannte Mr. Giles mitsamt seinem Serviertisch beinahe über den Haufen.
»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen!« rief der alte Herr. »Oh, meine liebe Mrs. Maylie, Gott steh uns bei – und mitten in der Stille der Nacht – so etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!«
Und mit dem Ausdruck lebhaftesten Beileids schüttelte der alte Herr beiden Damen die Hand, rückte einen Stuhl heran und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
»Sie hätten
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