Olivers Versuchung
herausgefunden hatte, dass Quinn und Rose seine Urgroßeltern vierten Grades waren, war er mehr oder weniger zu den gleichen Zeiten wach wie die Vampire. Er schlief bis zum frühen Nachmittag und blieb bis in die frühen Morgenstunden auf. In ein paar Monaten würde er sich höchstwahrscheinlich vollständig darauf umgestellt haben, die ganze Nacht wach zu bleiben.
Oliver betätigte den Garagentoröffner und fuhr in die Garage. Er parkte an seinem gewohnten Platz neben der Treppe, die nach oben ins Haus führte. Als er den Motor ausschaltete, war es plötzlich still um ihn herum. Er öffnete die Autotür und stieg aus. Kein Geräusch kam von oben. Gut. Er hatte keine Lust, Blake zu erklären, was geschehen war, wenn er nicht einmal selbst genau wusste, in welches Schlamassel er da geraten war. Mit etwas Glück würde sich alles wieder eingerenkt haben, wenn Blake nach Hause kam, und sein neugieriger Halbbruder würde nie etwas davon erfahren.
Er ging zur Schiebetür des Minivans und öffnete sie. Seine Passagierin lag noch genauso bewegungslos da wie zuvor. Er beugte sich zu ihr hinunter, um zu überprüfen, ob sie atmete – und das tat sie – dann hob er sie in seine Arme und trug sie nach oben.
Mit seinem Ellbogen drückte er auf den Lichtschalter in der Diele, dann tat er dasselbe im Wohnzimmer und trat ein. Vorsichtig legte er sie auf das übergroße Sofa, nahm die Wolldecke, die über der Armlehne lag, und deckte sie damit zu.
Dann stand er nur da und blickte zu ihr hinunter. Als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er sich oft um verletzte Kollegen gekümmert, aber seine Hilfe hatte sich meist darauf beschränkt, ihnen sein Blut zu spenden, damit ihre Vampirkörper heilen konnten. Obwohl er wusste, dass Vampirblut bei Menschen heilende Eigenschaften hatte, war er sich nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Da er nicht wusste, woran die junge Frau litt, wollte er nicht zu solch drastischen Maßnahmen greifen, wie ihr sein Blut einzuflößen. Was wäre, wenn sie währenddessen aufwachte? Es würde alles nur noch schlimmer machen.
Als er sich mit seiner bebenden Hand durchs Haar kämmte, fiel ihm auf, wie sich das Mädchen bewegte. Sofort beugte er sich zu ihr und bemerkte, dass sie zitterte. Sie hatte Schüttelfrost.
„Fuck!“, fluchte er.
Er konnte sich nur vorstellen, dass der andere Vampir zu viel Blut genommen und sie damit geschwächt hatte. Als ein weiterer Schauer ihren Körper schüttelte, setzte sich Oliver auf die Couch, nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich, aber ihr Zittern hörte nicht auf.
Er brauchte Hilfe. Professionelle Hilfe.
Schnell zog er sein Handy heraus und wählte.
Als der Anruf entgegen genommen wurde, äußerte er sein Anliegen. „Maya, du musst zum Haus kommen. Ich brauche einen Arzt.“
„Oliver“, stieß sie überrascht hervor. „Bist du verletzt?“
„Nicht ich! Ein Mensch! Beeil’ dich!“
5
Cain blickte zurück zu Blake, der neben Cains Auto stand. Er hatte sich gerade zu seiner Patrouille aufmachen wollen, als der Sterbliche aufgetaucht war, um ihn um Hilfe zu bitten.
„Ich habe keine Ahnung, wo er ist“, sagte Cain zu seinem Kollegen.
Blake runzelte die Stirn. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ Dann streifte er mit der Hand durch sein dichtes, dunkles Haar. „Was jetzt?“
Cain war mehr als nur einmal Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Blake und Oliver gewesen, und dies war nicht das erste Mal in den letzten paar Wochen, dass Blake ihn um Hilfe gebeten hatte, seinen außer Rand und Band geratenen Halbbruder aufzuspüren.
„Du machst dir Sorgen um ihn. Ich hatte nicht geglaubt, dass ihr zwei miteinander auskommt.“
„Ich mache mir keine Sorgen um ihn, sondern um diese Menschen. Das nächste Mal wird er jemanden töten. Du hättest ihn heute Abend sehen sollen. Er war wie ein Junkie kurz vorm Ausrasten.“ Er stieß ein wütendes Schnauben aus. „Quinn und Rose hätten nie nach England reisen dürfen. Wie können sie von mir erwarten, dass ich ihn unter Kontrolle halte? Ich bin nur ein Mensch!“
„Wie ich die Sache sehe, liegt es weder an dir noch an Quinn oder Rose. Oliver muss seine Dämonen selbst besiegen.“
„Aber warum haben sie mich dann gebeten, mich um ihn zu kümmern?“
Cain zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“
„Wie hast du es geschafft?“
„Was geschafft?“
„Die Blutgier unter Kontrolle zu bringen.“
Cain schloss für einen Moment die Augen und suchte in der Dunkelheit nach einer Antwort,
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