Olivers Versuchung
Lügen nicht bewusst: Es war möglich, dass ein Vampir ihre Erinnerungen ausgelöscht und ihr neue eingepflanzt hatte. Sie würde gar nicht wissen, dass sie log. Die einzige Frage war, warum sollte ein anderer Vampir dies tun? Warum sollte er eine solche Geschichte erfinden? Versuchten irgendwelche Vampire, Scanguards in eine Falle zu locken, indem sie an Scanguards’ Sinn für Ehre und Pflicht appellierten, im Wissen, dass Scanguards Menschen in Not helfen würde?
Da Oliver weiterhin misstrauisch war, wendete er das an, was er von Thomas gelernt hatte: Er stellte Fragen, um herauszufinden, ob Ursulas Geschichte sich veränderte, je länger sie sie erzählte. Lügner vergaßen oft die kleineren Einzelheiten ihrer sorgfältig konstruierten Geschichten und machten letztendlich Fehler.
„Du sagtest, du warst an der NYU eingeschrieben. Bist du gleich nach deiner Entführung nach San Francisco gekommen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wir waren für lange Zeit irgendwo in New York. Eines Nachts packten sie plötzlich alles zusammen, wir wurden auf einen großen LKW geladen und sind an die Westküste gefahren. Ich kam vor etwa drei Monaten in San Francisco an. Bis heute Nacht wusste ich nicht einmal, in welcher Stadt ich war.“
„Wo haben sie dich gefangen gehalten?“
Sie zuckte die Achseln. „In einem großen Gebäude, vielleicht in einem Mehrfamilienhaus oder einem alten Hotel. Ich bin mir nicht sicher. Es war dunkel, als wir ankamen, und sie haben uns nie hinaus gelassen. Wir waren immer eingesperrt, und selbst wenn wir in den Zimmern waren, in denen die Vampire von uns tranken, war immer eine Wache dabei, die uns beobachtete.“
„Wo ist das Gebäude?“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß es nicht. Nicht weit von der Stelle, wo du mich gefunden hast. Ich bin mir nicht sicher, wo genau es war. Ich wollte nur fliehen.“
Cain räusperte sich. „Ja, apropos deiner Flucht . . . Wie hast du es geschafft, wo doch immer jemand auf Wache war?“
Ursula schloss die Augen für einen Moment, und als sie sie wieder öffnete, sah sie weg. „Der Wächter war unachtsam. Er wurde zu einem anderen Raum gerufen, als es dort eine Auseinandersetzung mit einem der Blutegel gab. Er vergaß, die Tür zu verriegeln. Ich war in der Lage, über eine Feuerleiter aus dem Fenster zu steigen.“
„Gab es nur einen Wächter?“, fuhr Cain fort.
Sie schüttelte den Kopf. „Es gab viele. Aber sie waren alle damit beschäftigt, die anderen Mädchen zu bewachen“, beeilte sie sich hinzuzufügen.
Oliver warf ihr einen angespannten Blick zu. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, und er spürte, wie ihre Drüsen mehr Schweiß produzierten. Kein unangenehmer Geruch, jedoch schwitzte sie, und dies bedeutete, dass sie nervös war. War sie nervös, weil sie log? Oder einfach nur aufgewühlt, weil sie ihr Martyrium nochmals durchlebte?
Wenn er das nur wüsste!
Als sie ihr Gesicht ganz zu ihm zurückdrehte, trafen sich ihre Blicke. Oliver holte tief Luft und sog damit ihren Duft ein. Sofort stieg Hunger in ihm hoch, obwohl er sich erst vor ein paar Stunden ernährt hatte. Er dürfte jetzt eigentlich nicht hungrig sein und schon wieder nach Blut verlangen. Er hatte genügend von dem Jugendlichen in der Bayview genommen. Mehr als genug. Er sollte für vierundzwanzig Stunden gesättigt sein. Doch eine seltsame Lust überkam ihn, und er war sich nicht sicher, ob er sie beißen oder küssen wollte. Beide Möglichkeiten erschienen ihm gleichermaßen verlockend. Und gleichermaßen falsch in dieser Situation.
„Bitte, du musst mir glauben!“, bat sie.
Er spürte, wie Maya sich von hinten näherte. „Du musst zugeben, das ist eine sehr fantastische Geschichte.“
„Und sie ergibt keinen Sinn“, fügte Cain an.
„Aber könnte es nicht möglich sein?“, fragte Blake. „Wie wir alle wissen, gibt es da draußen viele üble Typen.“
Oliver drehte sich um und blickte Maya und Cain an. „Blake hat recht. Wir können das nicht einfach außer Acht lassen. Wenn sie die Wahrheit sagt, dann haben wir ein Problem vor uns.“
Ursula sprang auf und lenkte damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. „Ihr glaubt, dass ich lüge?“
Oliver stand auf und griff instinktiv nach ihr, aber sie wich ihm aus. „Das habe ich nicht gemeint.“
Mit Tränen in ihren Augen starrte sie ihn an. „Was hast du dann gemeint?“
Nervös verlagerte er sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Er warf einen Blick auf Cain, der mit den Schultern
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