Olivers Versuchung
von all den Spuren von Blut und Schmutz, die seit der Flucht aus ihrer Gefangenschaft an ihr klebten. Sie schrubbte immer fester, als ob sie damit die Narben der letzten drei Jahre wegreiben könnte.
Doch sie fühlte sich immer noch schmutzig, besudelt von den Vampiren, die sie benutzt hatten. Es waren Flecken, von denen sie befürchtete, dass sie nie mehr ganz verschwinden würden, egal wie viel Seife sie verwendete.
Als sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einsah, quollen Tränen aus ihren Augen. Und in der Einsamkeit des Badezimmers eines Fremden ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Wie lange sie ihre Wangen hinunterkullerten, konnte sie nicht sagen, aber als sie endlich versiegten, war das Wasser nur noch lauwarm.
Betäubt von der Offenlegung ihrer eigenen Schwäche griff sie nach dem Handtuch, das sie zuvor aus einem Schrank gezogen hatte, und trocknete sich ab. Sie zog ihre Hose an – ohne ihre Unterwäsche, da sie diese zum Trocknen über den Handtuchhalter gehängt hatte –, aber als sie auf ihr schmutziges, blutiges T-Shirt blickte, überdachte sie Olivers Angebot, sich frische Sachen aus seinem Schrank zu nehmen.
Es kostete sie viel Stolz, sich einzugestehen, dass sie ein sauberes Hemd auf ihrer Haut spüren wollte. Sie warf ihr eigenes T-Shirt auf den Boden, entfernte die Barrikade unter der Klinke und öffnete die Tür.
Das Schlafzimmer war leer; niemand war hereingekommen. Sie war erleichtert.
Ursula spähte in Olivers Kleiderschrank, fand jedoch nichts Außergewöhnliches: Sein Geschmack in Sachen Kleidung war sehr . . . menschlich. Jeans in verschiedenen Schattierungen von blau und schwarz, T-Shirts in einer Vielzahl von Farben, verschiedene Anzüge – was sie überraschte, denn er sah nicht so aus, als ob er elegante Sachen trug – sowie Schuhe, Gürtel und Krawatten.
Sie öffnete eine Schublade: Socken. Die daneben enthielt einen Stapel Unterwäsche. Eine Welle von Wärme durchflutete sie. Mit glühenden Wangen schloss sie die Schublade schnell wieder. Natürlich wusste sie, dass auch Vampire Boxershorts oder Slips trugen. Aber sie war wirklich nicht daran interessiert herauszufinden, zu welcher Gruppe Oliver gehörte: Das wusste sie nämlich schon. Sie hatte gesehen, wie er seine Unterwäsche zuvor vom Boden aufgehoben hatte.
Blind nahm sie ein T-Shirt von einem der Stapel und schloss die Schranktür. Hastig zog sie es über den Kopf und steckte den Saum in ihre Hose. Es war zu groß für sie, was zu erwarten war, aber es erfüllte seinen Zweck.
Ursula blickte auf die Uhr am Nachttisch. Es waren noch mindestens vier, wenn nicht fünf Stunden bis Sonnenaufgang. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen: Hier bei den Vampiren zu bleiben und zu hoffen, dass sie sie davon überzeugen konnte, ihr und den anderen Mädchen, die noch gefangen gehalten wurden, zu helfen, oder wegzulaufen in der Hoffnung, dass die Polizei ihre Geschichte glauben und ihr helfen würde.
Welches Szenario hatte eine größere Aussicht auf Erfolg?
Wie immer, wenn sie vor einer weitreichenden Entscheidung stand, die ihr Leben zum Besseren oder Schlechteren verändern konnte, wägte sie jede Seite vorsichtig ab. Die erste Möglichkeit, zu entkommen und zur Polizei zu gehen, erschien relativ einfach. Nur zwei Männer waren im Moment im Haus, und einer davon war ein Mensch, dessen Sinne nicht schärfer waren als ihre eigenen. Obwohl Blake stark aussah, hatte sie das Gefühl, dass sie ihn überlisten konnte. Nicht so Oliver. Da sie wusste, dass Vampire wie nachtaktive Tiere waren, war es sehr wahrscheinlich, dass er tagsüber tief schlief, sodass eine Flucht bei Tageslicht ihre einzige realistische Option war. Und selbst wenn er erwachte, wenn sie erst einmal aus dem Haus geflohen war, konnte er ihr bei Tageslicht nicht folgen, ohne von der Sonne zu Holzkohle verbrannt zu werden.
Die Suche nach einer Polizeistation würde nicht allzu schwierig sein. Sie könnte einen Passanten nach dem Weg fragen. Aber was würde sie der Polizei erzählen? Dass eine Gruppe von Vampiren sie entführt hatte und noch ein Dutzend andere Mädchen gefangen hielt? Nein, sie würden denken, sie sei verrückt. Was wäre, wenn sie behauptete, dass ein illegaler Prostitutionsring die Mädchen gefangen hielt? Das war ein viel glaubhafteres Szenario, und die Polizei würde sicherlich etwas unternehmen. Sie war sich sicher, dass sie, wenn sie erst einmal wieder im Bayview Bezirk war, den Weg zurück zu ihrem ehemaligen Gefängnis finden
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