Olivers Versuchung
würde. Sie hatte sich Straßennamen und besondere Gebäude eingeprägt.
Aber wenn die Polizei das Gebäude durchsuchte, was würde dann geschehen? Sie wusste, dass die menschlichen Waffen der Polizei Vampire nicht töten konnten. Was sie bräuchten, waren Pfähle und Pistolen mit Kugeln aus Silber. Soviel hatte sie während ihrer Gefangenschaft gelernt. Ohne solche Waffen würden die Polizisten von den Vampiren abgeschlachtet werden. Vielleicht könnte sie selbst entkommen und nach Hause zurückkehren, wenn sie weit genug entfernt war. Aber konnte sie mit der Schuld leben, so viele Männer in den Tod geschickt zu haben? Und was würde mit den anderen Mädchen geschehen? Konnte sie mit dem Wissen leben, dass diese immer noch als Blut-Huren eingesperrt waren?
Ursula schüttelte den Kopf.
Aber war ihre andere Option besser? Konnte sie die Vampire von Scanguards überzeugen, ihr zu helfen und ihre Entführer zu bekämpfen, um die anderen Mädchen zu retten, und somit sicherstellen, dass so etwas nicht nochmals geschehen würde? Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr klar, dass sie keine Wahl hatte. Wenn jemand diese Vampire bekämpfen konnte, dann andere Vampire. Sie würden wissen, was sie erwartete, und wären auf einen Kampf besser vorbereitet als ahnungslose Polizisten. Zumindest wäre es ein fairer Kampf – Vampir gegen Vampir. Und wenn es ihnen gelänge, die Vampire zu besiegen, könnte sie es dann geheim halten, was ihr Blut und das Blut der anderen Mädchen tat? Oder würden sie herausfinden, dass ihr Blut wie eine starke Droge auf einen Vampir wirkte? Würden sie diese Droge dann für sich selbst wollen?
Immer und immer wieder überdachte sie die Konsequenzen, zu bleiben, anstatt zu versuchen zu entkommen und es bei der Polizei zu versuchen. In ihrem Bauch wusste sie die Antwort auf ihr Dilemma bereits, aber sie hatte Angst, es sich selbst gegenüber einzugestehen. Die Minuten verstrichen, und sie konnte ihre Entscheidung nicht länger hinauszögern. Sie würde hier bleiben.
Allerdings gab es eine Sache, die sie zuerst tun musste: Sie musste ihre Eltern anrufen, um ihnen zu sagen, dass es ihr gut ging und dass sie bald nach Hause kommen würde. Ein kurzer Anruf, nur ein paar Sekunden lang, war alles, was sie brauchte. Kurz genug, sodass niemand den Anruf zu Olivers Haus zurückverfolgen konnte.
Aber da Oliver das Telefon aus ihrem Zimmer entfernt hatte, musste sie ein anderes finden. Vielleicht hatte er irgendwo ein altes Telefon herumliegen. Wenn nicht, dann würde sie sich hinunter wagen, wenn er schlief, und in der Bibliothek oder in der Küche auf die Suche gehen. Hatte nicht jeder ein Telefon in der Küche?
Ursula griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Sie drehte die Lautstärke auf, damit der Ton ihre eigenen Geräusche übertönte. Sie war sich bewusst, dass Vampire ein ausgezeichnetes Gehör hatten, schärfer als das eines Menschen. Sollte Oliver ruhig glauben, dass sie fernsah.
Während eine langweilige Dauerwerbesendung über die neueste Diätpille aus dem Kasten dröhnte, erkundete sie das Zimmer.
Gründlich durchsuchte sie den Raum und ließ keine Ecke unbeachtet. Allerdings wurden ihre Hoffnungen schnell zunichte gemacht: Es gab keinen Computer mit Internetanschluss, kein altes Handy, kein Ersatztelefon, das sie in die Wandsteckdose stecken könnte. Was Oliver im Überfluss hatte, waren Musik-CDs und eine große Sammlung von Filmen auf DVD.
Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass das Zimmer einem ganz normalen Mann gehörte, einem sterblichen Mann, keinem Vampir. Alles sah so außerordentlich . . . normal aus.
Nicht, dass sie jemals im Schlafzimmer eines Vampirs gewesen wäre. Obwohl sie wusste, dass die meisten der Vampirwärter in demselben Gebäude lebten, in dem sie gefangen gehalten worden war, war sie nie in die unteren Etagen gelangt, wo sich deren Quartiere befanden.
Enttäuscht darüber, dass sie nichts Brauchbares in Olivers Zimmer gefunden hatte, ließ sie sich auf das Bett fallen, richtete sich zwei Kissen hinter ihren Rücken und begann die Fernsehkanäle durchzugehen. Wann immer sie ihren Kopf zur Seite wandte, atmete sie einen betörenden Duft ein: männlich, stark, attraktiv. Sie erkannte den Geruch: So hatte Oliver gerochen, als sie ihn geküsst hatte. Es wühlte sie auf. Sie spürte den Drang, sich zu berühren, um Befriedigung zu finden. Verdammt noch mal, das würde sie nicht tun! Sie würde sich nicht
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