Olivers Versuchung
stattdessen und zwang sich, trotz des Sturms, der in ihm tobte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
„Leider ja.“ Er hielt ein paar Blatt Papier hoch. „Das ist der Polizeibericht. Offenbar fanden sie einen Brief, den Ursula geschrieben hatte.“
Schockiert beugte sich Ursula dem Computer entgegen. „Ich habe keinen Brief geschrieben! Es gab keinen Brief!“
„Das ist noch nicht alles“, fuhr Cain fort. „Im Bericht steht auch, dass du ein paar Tage vor deinem Verschwinden einen großen Streit mit deinen Eltern hattest.“
Ursula wich zurück, und Oliver bemerkte, wie sie zusammenzuckte. „Aber . . . “ Sie zögerte und blickte Oliver mit Tränen in den Augen an. „Ich . . . es war alles ein großes Missverständnis. Ich war im Stress wegen meiner Prüfungen. Ich wollte nicht mit ihnen streiten.“
Ihre Augen baten ihn um Verständnis, und sein Herz brach für sie entzwei.
Ein Räuspern kam aus dem Lautsprecher. „Die Beweise, die die Polizei fand, der Brief, ein Stück deiner Kleidung auf einem Pier in Manhattan . . . sie kamen zu dem Schluss, dass du ausgerastet bist, dass du es nicht mehr verkraften konntest. Es wurde als Selbstmord angesehen.“
Ein Schluchzen entriss sich Ursulas Brust. Oliver bemerkte, wie sie nach der Kante des Schreibtischs griff, um sich zu stützen, und sprang auf. Er fing sie auf, bevor ihre Knie nachgaben.
„Meine Eltern denken, ich bin tot?“, schluchzte sie. „Nein, nein, bitte, nicht!“
Oliver blickte über ihre Schulter zum Bildschirm. „Danke, Cain. Ich rufe dich später zurück.“
Dann führte er Ursula zu dem Chesterfield Sofa, das unter dem Fenster stand, und setzte sich mit ihr hin, ohne sie aus seinen Armen zu lassen.
Ihre Tränen wurden nur durch hektisches Nachluftschnappen, das zu noch lauterem Schluchzen führte, unterbrochen. Er hatte noch nie eine Frau so heftig weinen sehen.
„Sie glauben, ich bin tot“, wiederholte sie immer und immer wieder.
Oliver streichelte mit seiner Hand über ihr Haar und drückte ihren Kopf an seine Brust. „Es tut mir leid, Baby.“
„Bitte glaube mir!“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Das tue ich. Ich glaube dir.“
Seine Zweifel an ihrer Geschichte waren bei ihrem Aufschrei verflogen, als sie erfuhr, dass ihre Eltern sie für tot hielten. Ihre Reaktion war augenblicklich und unverfälscht gewesen. Sie hatte ihren Tod nicht vorgetäuscht und war nicht weglaufen. Wer auch immer sie entführt hatte, hatte dafür gesorgt, dass ihre Eltern und die Polizei die Suche nach ihr aufgeben würden. Daran hatte er jetzt keine Zweifel mehr.
„Meine Eltern“, schniefte sie. „Ich muss ihnen sagen, dass ich lebe.“
Er nickte. „Ich kümmere mich darum. Aber du musst mir etwas Zeit geben. Wenn deine Entführer sich soviel Mühe gegeben haben, dich verschwinden zu lassen, würde ich es nicht für unwahrscheinlich halten, dass sie deine Eltern beobachten, jetzt wo du entkommen bist. Sie wissen, dass deine Eltern die ersten sein werden, mit denen du in Kontakt trittst. Ich möchte sicherstellen, dass niemand ihr Telefon abhört oder irgendwelche Kommunikation mit ihnen abfängt.“
„Aber du verstehst nicht! Sie leiden. Ich muss ihnen sagen, dass ich am Leben bin.“ Sie starrte ihn mit einem Blick an, der Blut aus einem Stein hätte quetschen können.
„Oliver hat recht“, sagte Blake von der Tür aus. „Es ist nicht nur wegen deiner Sicherheit, sondern auch wegen der deiner Eltern. Was wäre, wenn sie deinen Eltern drohen, weil sie einen Grund zur Vermutung haben, dass deine Eltern wissen, wo du bist?“
Seine Worte schienen ihr langsam klar zu werden, denn schließlich nickte Ursula. Aber den Schmerz, der auf ihrem Gesicht geschrieben stand, verringerten sie nicht.
„Ich werde unser Büro in New York beauftragen, jemanden nach Washington zu schicken, um die Situation auszukundschaften. Wenn die Luft rein ist, werde ich es arrangieren, dass du mit ihnen sprechen kannst. Ich verspreche es dir“, sagte Oliver.
Es war ein Versprechen, das er auf jeden Fall halten würde.
15
„Ich hoffe, du hast recht“, warnte ihn Zane.
Oliver straffte seine Schultern und hob das Kinn leicht an. Er stand neben Zanes Hummer, der vor Olivers Haus geparkt war. Die Sonne war erst vor einer halben Stunde untergegangen.
„Sie spricht die Wahrheit. Du musst ihr glauben.“
„Ich muss gar nichts tun. Der einzige Grund, warum ich diese Sache überhaupt genehmigt habe, ist, weil mich die Geschichte
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