Olivers Versuchung
Erweiterung der Straßenbahnstrecke – der MUNI, wie sie genannt wurde – entlang der 3rd Street trug wenig dazu bei, dieses Stadtviertel zu verbessern. Im Gegenteil, die Bahn machte es einfacher für die Kriminellen, die Gegend unsicher zu machen.
Oliver wusste das besser als jeder andere: Er war hier aufgewachsen. Und er kehrte nicht gerne hierher zurück. Die Gegend erinnerte ihn an die Sünden seiner Jugend, die Gangs und Schlägereien, in die er verwickelt gewesen war, und die Verbrechen, die er begangen hatte. Mit jedem Block, durch den er weiter in das Herz des Stadtteils eindrang, fühlte er, wie sich seine Schultern und seine Brust anspannten.
In der vorherigen Nacht war er hier gewesen und hatte sich von einem heruntergekommenen Jugendlichen ernährt. Jetzt fühlte er sich von dem Gedanken angewidert. Warum war er hierher gekommen? Er hatte die Gegend gemieden, seit er begonnen hatte, für Scanguards zu arbeiten, aber seit er vor zwei Monaten in einen Vampir verwandelt worden war, hatte ihn irgendetwas immer wieder hierher gezogen. Hatte er gespürt, dass hier jemand seine Hilfe brauchte?
Er schüttelte den dummen Gedanken ab. Er war weder ein Hellseher, noch hatte er irgendwelche speziellen Gaben wie Samson, Gabriel oder sogar Yvette. Vielleicht hatte er die Bayview einfach als ein Jagdgebiet angesehen, wo er seine Blutgier recht leicht stillen konnte. Nicht mehr und nicht weniger. Nur war er heute nicht für Blut hergekommen, obwohl er das Haus mit leerem Magen verlassen hatte. Er fühlte ihn jetzt knurren und unterdrückte den Hunger. Für ein paar Stunden würde alles in Ordnung gehen. Dann später, wenn dieser Einsatz vorbei war, würde er sich ernähren. Die Erinnerung, in der Nacht zuvor Flaschenblut getrunken zu haben, verfolgte ihn immer noch: Es hatte ihn leer und unbefriedigt gelassen. Und er hatte nicht die Absicht, diese Erfahrung zu wiederholen.
Oliver verlangsamte seine Geschwindigkeit. „Hier bin ich Ursula begegnet, als sie mich um Hilfe bat.“
„Okay. Aus welcher Richtung kam sie?“, fragte Zane über das Mobiltelefon.
„Von Osten“, antwortete er und zeigte auf die Kreuzung.
„Ja, das glaube ich auch.“ Ein Zögern lag in Ursulas Stimme.
Als er sie ansah, nickte sie schnell. „Ich bin mir ziemlich sicher.“
Oliver bog in die nächste Straße ein und fuhr mit niedriger Geschwindigkeit weiter, sodass Ursula eine Chance hatte, sich in der Umgebung umzusehen.
„Erkennst du etwas wieder?“, fragte er leise.
Ihr Blick schweifte herum, zuerst nach links, dann rechts, dann geradeaus. Ihre Hände verkrampften sich auf ihren Schenkeln. „Ja, es sieht vertraut aus. Aber ich bin gelaufen. Und ich hatte Angst.“
„Streng dich an!“
Auf Zanes strengen Befehl hin bemerkte Oliver, wie sie zusammenzuckte.
Sofort zeigte sie mit dem Finger auf ein Ziel in der Ferne. „Dorthin. Ich erinnere mich an das Geschäft, das mit Brettern vernagelt ist.“
Meter um Meter arbeiteten sie sich durch die Gegend und erreichten den Rand des Stadtteils, wo er an die schlimmste Gegend angrenzte, die San Francisco zu bieten hatte: Hunter’s Point, ein Ort, den kein Tourist je zu sehen bekam, ein Ort, in den sich sogar die meisten Einwohner von San Francisco nie wagten. Nur wenige Menschen lebten hier, und viele von ihnen wohnten in einem der trostlosen städtischen Wohnprojekte. Näher an der Bay lagen viele der Grundstücke brach, auf anderen standen alte Lagerhallen und Industriekomplexe.
Nicht weit vom India Basin Park veränderte sich plötzlich Ursulas Atmung. „Stop!“, flüsterte sie.
Oliver brachte das Auto zum Stillstand und bestätigte mit einem Blick in den Spiegel, dass Zane hinter ihm das gleiche tat. „Was ist?“
Ihre Hand zitterte, als sie durch die Windschutzscheibe auf etwas in der Ferne deutete. „Das da. Das Schild für das Import-Export-Unternehmen. Ich lief daran vorbei.“ Sie schluckte. „Das Gebäude, wo sie mich gefangen hielten, ist gleich um die Ecke. Im nächsten Block.“
Oliver legte den Gang ein und kroch vorwärts.
„Nein, nicht zu nahe“, bat sie.
Er blickte sie an. „Du musst uns das Gebäude zeigen, und da ich bezweifle, dass du aus dem Auto aussteigen willst, muss ich näher ranfahren.“
Oliver bemerkte, wie sich Ursulas Kiefer versteifte – ebenso wie der Rest ihres Körpers –, als ob sie sich auf einen unsichtbaren Angreifer vorbereitete.
„Mach dir keine Sorgen! Wenn jemand näherkommt, können wir schnell wegfahren.“ Und dann
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