Olivers Versuchung
du Idiot!“ Oliver warf einen Seitenblick zu Ursula, deren Augen sich geweitet hatten.
Nun wich sie vor ihm zurück. Nervös glättete sie ihr T-Shirt mit ihren Händen. Ihre Lippen waren geschwollen, ihr Hals rot, dort wo er sie geküsst hatte. Erst jetzt bemerkte Oliver, dass das Licht im Flur brannte. Blake musste es eingeschaltet haben, und in seinem benebelten Zustand hatte Oliver es nicht einmal bemerkt. Seine Vampirsinne hatten ihn verlassen, als er Ursula geküsst hatte.
Blake folgte seinem Blick und ließ seine Augen über Ursulas Körper schweifen. „Was hast du dann . . . “ Er unterbrach sich. „Oh, verdammt, Oliver! Du bist immer noch ein Arschloch! Nach allem, was sie durchgemacht hat?“
Ernüchtert ließ Oliver ihn los. Blake hatte recht, aber Oliver würde dies ihm gegenüber niemals zugeben. Er suchte den Blickkontakt mit Ursula, aber sie wich seinem Blick aus.
„Es tut mir leid, Ursula. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“ Es war eine Lüge. Ja, es tat ihm leid, aber er wusste genau, was in ihn gefahren war: Ursula. Sie ging ihm unter die Haut. Sie erweckte Wünsche in ihm, denen er in seinem kurzen Leben als Vampir nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. War er deshalb so fordernd gewesen? Weil er dieses Verlangen schon eine Weile nicht mehr gestillt hatte?
Ursula antwortete nicht.
Du lieber Gott, er fühlte sich wie ein Arschloch! Er hatte sie verführt, und so wie sie ihn jetzt ansah, wusste er, dass sie es bedauerte, sich so gehen gelassen zu haben. Dazu kam auch noch ihre offensichtliche Verlegenheit, dass Blake sie überrascht hatte.
Er starrte wieder seinen Halbbruder an. „Was willst du eigentlich hier oben? Solltest du nicht die Türen unten bewachen?“
„Cain hat angerufen. Er hat Informationen für dich“, antwortete Blake.
„Ist er noch am Telefon?“
„Er wartet auf Scanguards’ internem System auf dich.“
„Entschuldigt mich.“ Mit einem bedauernden Blick zu Ursula drehte sich Oliver um, ging zur Treppe und ließ Blake mit ihr zurück.
Wenigstens konnte er sich einer Sache sicher sein: Ursula würde nicht zulassen, dass Blake sie jetzt berührte, nicht nach dem, was gerade geschehen war. Und Blake war klug genug, um nichts zu versuchen, wenn er nicht im gleichen Topf landen wollte wie Oliver.
Oliver marschierte ins Arbeitszimmer und ließ sich im Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder. Auf dem Bildschirm war Cain zu sehen, der ebenfalls an einem Schreibtisch saß. Sie waren über Scanguards’ sicheres Kommunikationssystem verbunden. Es war ein Videokonferenz-Programm ähnlich wie Skype. Allerdings war es verschlüsselt und dank Thomas’ Programmierkünsten immun gegen Hacker.
„Da bist du ja.“
„Was ist los? Was hast du herausgefunden?“
Cain sah ernst drein. „Einiges, aber ich bin mir nicht sicher, ob es dir gefallen wird.“
Oliver schloss seine Augen für einen Moment. Er steckte schon so tief in der Scheiße, dass er nur hoffen konnte, dass die Neuigkeiten nicht allzu schlecht waren. Wenn sich herausstellte, dass Ursula log und sich als Köder einer rivalisierenden Vampirgruppe entpuppte, war er sich nicht sicher, wie er je wieder aus dieser Situation herauskommen sollte. Er begehrte Ursula, und mit jedem Kuss wurde sein Verlangen stärker.
„Los, lass es mich dir nicht aus der Nase ziehen!“
Cain nickte. „Ich habe Zeitungsartikel über ihr Verschwinden gefunden, und Thomas konnte mir die entsprechenden Polizeiberichte besorgen. Es ist auf jeden Fall Ursula auf dem Foto. Ihr Name ist Ursula Wei Ling Tseng. Tochter eines chinesischen Diplomaten, der an der chinesischen Botschaft in Washington DC arbeitet. Einzelkind. Sie besuchte die NYU, bevor sie verschwand.“
Oliver entspannte sich und rollte seine Schultern, um die Anspannung in seinem Hals zu lösen. „So weit stimmt es doch. Also, was soll mir daran nicht gefallen?“
Cain zog eine Grimasse. „Sie hat uns erzählt, dass sie entführt wurde.“ Er schüttelte den Kopf. „Sieht eher so aus, als ob sie weggelaufen ist.“
Ein Keuchen an der Tür lenkte Olivers Blick vom Bildschirm weg. Ursula stand mit offenem Mund in der Tür, Blake hinter ihr.
„Das ist nicht wahr!“ Sie eilte ins Zimmer und um den Schreibtisch herum, dann wiederholte sie ihre Worte, während sie Cain auf dem Bildschirm anstarrte. „Das ist eine Lüge.“
Oliver spürte ihre Verzweiflung, wagte aber nicht, eine beruhigende Hand auf ihren Arm zu legen. „Bist du dir sicher, Cain?“, fragte er
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