Olivia und der australische Millionär
schneiden könne. Für Olivias Ohren klangen alle Balfours so. Oder hieß das etwa, dass sie vielleicht doch ein Snob war? Einen schrecklichen Moment lang überfiel sie das Gefühl, sich selbst enttarnt oder sogar verraten zu haben.
Was war nur seit jenem schrecklichen Abend mit ihr los? Alles, was sie bis dahin als sicheres, solides und hart erarbeitetes Fundament angesehen hatte, schien plötzlich in den Grundfesten erschüttert zu sein und drohte zusammenzubrechen. Was würde dann mit ihr geschehen?
Verunsichert und mit klopfendem Herzen schaute Olivia um sich. Australiens hunderttausendköpfige Bevölkerung … zusammengesetzt aus über fünfzig Nationalitäten … vereint in einem riesigen Schmelztiegel. So wurde es wenigstens in ihrem Reiseführer beschrieben. Jeder schien auf irgendjemanden zu warten, begrüßte, verabschiedete, umarmte oder küsste einen Freund oder Verwandten.
Jetzt erinnerte Olivia sich wieder, dass Darwin als beliebte Basis für Touristen galt, von der aus sie zum Weltkulturerbe gehörende Sehenswürdigkeiten besuchten und erforschten: den Kakadu Nationalpark oder das Arnhemland, ein Siedlungsgebiet der Aborigines im Northern Territory, das größer als Portugal war.
Ganz sicher interessante Orte, aber wie man bei dieser unglaublichen Hitze auch nur auf den Gedanken kommen konnte, dort herumzulaufen, war ihr schleierhaft. Sie schwitzte jetzt schon unerträglich. Trotzdem käme sie nie auf die Idee, ihr langärmeliges Armani-Jackett, das sie über einer cremefarbenen Seidenbluse zum schmalen, knielangen Rock trug, gegen Shorts, Tank Top oder Blümchen-BH zu tauschen. Das trugen nämlich die jungen Frauen um sie herum.
Heimlich wünschte sie sich allerdings, wenigstens auf das Jackett verzichtet zu haben, da sie sich langsam vor Hitze auflöste. Selbst die teuren Designerschuhe fühlten sich wie plumpe Holzklötze an ihren schmerzenden Füßen an. Und dass jeder sie anstarrte, machte die Sache auch nicht besser. Außerdem hatte sich neben dem Fließband inzwischen eine beachtliche Menge Gepäckstücke angesammelt, alle bedruckt mit dem unübersehbaren Louis-Vuitton-Label. Vielleicht hätte sie für diese Reise doch lieber gewöhnliche Koffer und Taschen kaufen sollen. Das unangenehme Empfinden, nicht wirklich hierherzupassen, wuchs.
„Alles in Ordnung, Darling?“
Erstaunt wandte sie sich einer attraktiven, dunkelhäutigen Frau in den Dreißigern zu, die um die Hüften etwas pummelig war, was ein lose fallendes Kleid mit floralem Muster kaschierte. An den Füßen trug sie pinkfarbene Flip-Flops.
Steht auf meiner Stirn etwa: Hilf- und hoffnungslos?
„Danke der Nachfrage, aber mir geht es bestens“, gab Olivia steif zurück.
„Sieht aber gar nicht danach aus, Darling!“ Der aufmerksam besorgte Blick aus den nachtschwarzen Augen wirkte ebenso aufrichtig wie das breite Lächeln. „Dein hübsches Porzellangesicht ist rot und fleckig, und auf deiner Oberlippe stehen kleine Schweißperlen. Ich würde sagen, du setzt dich lieber einen Moment.“
Warum mussten nur alle Australier so schrecklich laut sprechen?
Mit mütterlicher Strenge legte die Fremde eine Hand unter Olivias Ellenbogen und führte sie die zwei Schritte zu einer Bank, auf der noch eine Ecke frei war. „Langen Flug gehabt, was? Hört man am Akzent, dass du eine Pom bist!“ Als sie spürte, wie Olivia sich versteifte, lachte sie leise. „Kein Grund, beleidigt zu sein. Mein Urgroßvater stammt auch aus England. Er wurde von seiner vornehmen Familie nach Übersee geschickt, um das Vermögen durch Perlenfischerei aufzustocken. Seine Familie hat mich nie anerkannt. Aber das ist okay, ich kümmere mich auch nicht um sie. Und jetzt setz dich, Darling. Wir wollen ja nicht riskieren, dass du noch bewusstlos wirst!“
„Ich bin noch nie ohnmächtig geworden.“
„Für alles gibt es ein erstes Mal, Darling. Fünf von zehn Menschen kippen in ihrem Leben irgendwann um. Mir ist das auch schon passiert. War ein Unfall, bin aber fast gestorben. Rani und ich waren zum Fischen draußen. Barra … ist die Kurzform für Barramundi , der beste Fisch der Welt!“
„Ich habe schon davon gehört“, murmelte Olivia, weil sie nicht unhöflich sein wollte. „Ist es nicht unerträglich heiß hier?“
„Nicht für mich, Darling. Ich würde es eher als kühl bezeichnen. Sei froh, dass du nicht in der schwülen Regenzeit hier warst, aber die ist gerade vorbei. Was treibt dich überhaupt hierher? Wie eine Touristin siehst du nicht
Weitere Kostenlose Bücher