Olympos
Ilium. Mitten in dieser Menschenmasse befand sich Paris ’ Totenbahre, getragen von zwölf seiner engsten Waffengefährten, Männern, die für Priamos ’ Zweitältesten Sohn gestorben wären und die selbst jetzt weinten, während sie die schwere Bahre mit dem Toten trugen.
Paris ’ Leichnam war mit einem blauen Tuch bedeckt, das seine r seits schon unter abertausend Haarlocken begraben war – Zeichen der Trauer von Paris ’ Männern und seinen entfernteren Verwan d ten, da Hektor und die engeren Angehörigen ihre Locken erst unmittelbar vor der Entzündung des Scheiterhaufens abschneiden würden. Die Trojaner hatten die Achäer nicht gebeten, Trauerl o cken beizusteuern, aber wenn sie es getan hätten – und wenn Achilles, Hektors wichtigster Verbündeter in dieser verrückten Zeit, diese Bitte weitergegeben oder, noch schli m mer, in einen Befehl verwandelt hätte, den seine Myrmidonen durchsetzen sol l ten –, hätte Menelaos persönlich die Revolte angeführt.
Menelaos wünschte, sein Bruder Agamemnon wäre hier. Ag a memnon schien immer zu wissen, was zu tun war. Er war der wahre Oberbefehlshaber der Argeier – nicht der Usurpator Achi l les, und schon gar nicht der trojanische Mistkerl Hektor, der sich derzeit anmaßte, Argeiern, Achäern, Myrmidonen und Trojanern gleichermaßen Befehle zu erteilen. Nein, Agame m non war der wirkliche Führer der Griechen, und wenn er heute hier wäre, würde er Menelaos entweder von diesem tollkühnen Angriff auf Helena abhalten oder sich ihm bei dessen Ausfü h rung bis in den Tod hinein anschließen. Doch Agamemnon und fünfhundert se i ner loyalen Männer waren vor sieben Wochen mit ihren schwa r zen Schiffen nach Sparta und zu den griechischen Inseln heimg e fahren – offiziell, um neue Soldaten für di e sen Krieg gegen die Götter zu rekrutieren, insgeheim jedoch, um Verbündete für eine Revolte gegen Achilles zu finden – und wurden frühestens in e i nem Monat zurückerwartet.
Achilles. Da kam dieses verräterische Ungeheuer anma r schiert, nur einen Schritt hinter dem weinenden Hektor, der unmittelbar hinter der Bahre herging und den Kopf seines toten Bruders in den riesigen Händen barg.
Beim Anblick von Hektor und Paris ’ Leichnam erhob sich ein großes Wehklagen unter den abertausend Trojanern, die sich auf den Mauern und dem Platz drängten. Frauen auf Dächern und auf der Mauer – Frauen minderen Geblüts, nicht die wei b lichen Mitglieder von Priamos ’ königlicher Familie oder Helena – stim m ten ein durchdringendes Geheul an. Menelaos bekam unwillkü r lich eine Gänsehaut an den Unterarmen. Das Geschrei der Klag e weiber hatte immer eine solche Wirkung auf ihn.
Mein gebrochener und verdrehter Arm, dachte Menelaos und schü r te seinen Zorn wie ein allmählich verlöschendes Feuer.
Achilles – dieser Halbgott, der jetzt an ihm vorbeischritt, als P a ris ’ Bahre feierlich am Ehrenkontingent der achäischen Truppe n führer vorübergetragen wurde –, Achilles also hatte Menelaos vor acht Monaten den Arm gebrochen, am selben Tag, an dem der fußschnelle Männertöter allen Achäern erklärt hatte, Pallas Ath e ne habe seinen Freund Patroklos getötet und den Leichnam auf den Olymp geschafft, um sie zu verhöhnen. Dann hatte Achilles verkündet, der Krieg zwischen Trojanern und Achäern sei vorbei; stattdessen würden sie von nun an gemeinsam den heiligen Berg Olympos belagern.
Agamemnon hatte sich dagegen gewehrt – hatte sich gegen alles gewehrt: gegen Achilles ’ Arroganz, dagegen, dass er Agame m nons rechtmäßige Macht als König der Könige aller hier bei Troja versammelten Griechen an sich riss, gegen die Bla s phemie eines Angriffs auf die Götter, ganz gleich, wessen Freund Athene e r mordet hatte – sofern Achilles überhaupt die Wahrheit sagte –, und dagegen, dass die vielen zehntausend achäischen Kämpfer Achilles ’ Befehl unterstellt wurden.
Achilles ’ Reaktion an jenem schicksalhaften Tag war kurz und schlicht gewesen: Er werde gegen jeden Mann, jeden Griechen kämpfen, der sich seinem Führungsanspruch und seiner Krieg s erklärung widersetze. Er werde zum Zweikampf gegen jeden Ei n zelnen von ihnen antreten oder sich mit ihnen allen zugleich me s sen. Sollte derjenige, der als Letzter noch auf den Beinen stand, die Achäer von diesem Morgen an führen.
Agamemnon und Menelaos, die stolzen Söhne des Atreus, ha t ten Achilles gemeinsam mit Lanze, Schwert und Schild angegri f fen, während Hunderte achäischer
Weitere Kostenlose Bücher