Olympos
übersäte Totenbahre neben dem Scheiterhaufen abgestellt, direkt unter der Ehrentribüne an der Mauer des Zeustempels. Die in Reih und Glied marschierenden Fußsoldaten im Trauerzug bleiben stehen. Das Klagen und Weinen der Frauen auf den and e ren Mauern verebbt. In der plötzlichen Stille hört Menelaos das raue Atmen der Rösser und dann den Urinstrahl eines Pferdes, der auf den Stein prasselt.
Oben neben Priamos hält der alte Seher Helenos, der oberste Prophet und Berater Iliums, mit lauter Stimme eine kurze Grabr e de, aber der soeben aufgekommene Wind vom Meer, der wie ein kalter, missbilligender Atemhauch der Götter heranweht, trägt seine Worte fort. Helenos reicht Priamos ein zeremonielles Me s ser. Obschon beinahe kahl, hat Priamos sich für solche Feierlic h keiten ein paar lange, graue Strähnen über den Ohren bewahrt. Mit der rasiermesserscharfen Klinge trennt er eine Locke dieser grauen Haare ab. Ein Sklave – viele Jahre lang P a ris ’ persönlicher Sklave – fängt die Locke in einer goldenen Schale auf und geht weiter zu Helena, die das Messer von Pr i amos entgegennimmt und es für eine lange Sekunde betrachtet, als dächte sie daran, es sich in die Brust zu stoßen – ein jäher Schrecken durchfährt Menelaos, dass sie genau das tun und ihn seiner Rache berauben könnte, die jetzt nur noch Sekunden en t fernt ist –, aber dann hebt Helena das Messer und schneidet ein Stück von einer ihrer langen Schläfenlocken ab. Die brünette Locke fällt in die goldene Schale, und der Sklave geht weiter zur verrückten Kassandra, einer von Priamos ’ vielen Töchtern.
Obwohl es eine mühevolle und gefährliche Angelegenheit war, das Holz aus dem Ida-Gebirge zu beschaffen, ist es ein würdiger Scheiterhaufen. Da man den Marktplatz nicht mit einem traditi o nellen königlichen Scheiterhaufen von dreißig M e tern Länge pro Seite füllen konnte, wenn dort noch Platz für Menschen sein sol l te, misst der Scheiterhaufen nun lediglich zehn Meter pro Seite, ist jedoch höher als sonst; er ragt bis zur Zuschauerplattform an der Mauer empor. Ausladende Holzstufen, selbst schon kleine Plat t formen, führen zum höchsten Punkt hinauf. Dicke Bretter aus den Mauern von Paris ’ Palast verleihen dem massiven Brennholzha u fen seine rechteckige Grundform und stützen ihn.
Die starken Leichenträger schleppen Paris ’ Totenbahre zu der kleinen Plattform oben auf dem Scheiterhaufen hinauf. Hektor wartet unten am Fuß der breiten Treppe.
Nun werden die Tiere schnell und effizient getötet. Binnen M i nuten schneiden Männer, die Fachleute sowohl im Schlac h ten als auch im Darbringen religiöser Opfer sind – und schlie ß lich, denkt Menelaos, wo ist da der Unterschied? –, den Sch a fen und Rindern die Kehle durch, lassen ihr Blut in weitere zer e monielle Schalen laufen, häuten sie und ziehen ihnen den Speck ab. Paris ’ Leic h nam wird in Tierfett eingepackt wie verbranntes Fleisch in we i ches Brot.
Dann werden die abgehäuteten Kadaver die Stufen hinaufgetr a gen und um Paris ’ verhüllten Leichnam gelegt. Aus dem Zeustempel kommen Frauen – Jungfrauen in vollem zeremonie l lem Ornat, mit verschleiertem Gesicht – und bringen Amph o ren mit Honig und Öl. Da sie den Scheiterhaufen selbst nicht betreten dürfen, reichen sie die Gefäße Paris ’ Leibwäc h tern, die nun als Bahrenträger fungieren. Diese bringen die Gefäße die Stufen hi n auf und stellen sie mit großer Sorgfalt um die Bahre.
Paris ’ Lieblingsrösser werden nach vorn geführt, und Hektor schneidet den vier besten der zehn mit dem langen Messer se i nes Bruders die Kehle durch – so schnell geht er von einem zum and e ren, dass selbst diesen intelligenten, temperamentvollen, hervo r ragend trainierten Kriegstieren keine Zeit mehr für eine Reaktion bleibt.
Achilles wirft die Kadaver der vier stattlichen Hengste mit wi l der Entschlossenheit und übermenschlicher Kraft der Reihe nach auf den Scheiterhaufen. Jeder landet ein Stück weiter oben auf der Pyramide aus Bauholz und Baumstämmen.
Paris ’ persönlicher Sklave führt sechs der Lieblingshunde se i nes Herrn auf die freie Fläche beim Scheiterhaufen. Hektor geht von einem Hund zum anderen, tätschelt sie und krault sie hi n ter den Ohren. Dann hält er einen Moment lang sinnierend inne, als däc h te er daran zurück, wie oft sein Bruder diese Hunde mit Brocken vom Tisch gefüttert und sie auf Jagdexpeditionen in die Berge o der die Sümpfe im Landesinneren
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