Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
Ende fünfzig gefallen lassen! Erbärmlich. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stand er auf und verließ die Bank.
Draußen auf der Straße war alles wie immer. Die Leute bummelten oder saßen in den Cafés, tranken einen Kaffee oder schon das erste Bier. Plötzlich sah er die Häuser links und rechts von sich unaufhaltsam auf sich zukommen, sie drohten ihn zu zerquetschen! Sein Atem wurde flacher, er spürte, wie sein Herz in einem irren Tempo zu hämmern begann. «Schnell weg hier», keuchte er und trabte los. Sofort waren die Seitenstiche wieder da. Laufen konnte er also vergessen, nicht einmal schnelles Gehen war drin. Schritt für Schritt schlich er weiter, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, und landete schließlich auf dem Deich neben dem Hafen.
Vielleicht war er schon damals, 1979, falsch abgebogen. Sein Kumpel Ekki aus Kreuzberg hatte einen ausgedienten Leichenwagen besessen, den er einem Bestattungsinstitut abgekauft hatte. Arne besaß zu der Zeit einen Ford Transit. Ekki schlug vor, mit diesen beiden Autos in Berlin eine Spedition zu gründen. «Was für eine Schnapsidee», hatte Arne gesagt und aufs Surfen gesetzt, weil damit seiner Ansicht nach viel mehr Geld zu verdienen war.
Selten hatte sich ein Mensch so geirrt. Ekki hatte seine Kreuzberger Hinterhofklitsche nach der Wende zu einer der erfolgreichsten Speditionen Europas ausgebaut. Wenn Arne damals mitgemacht hätte, wäre er heute ein wohlhabender Mann und nicht hochverschuldeter Inhaber einer Musikkneipe kurz vorm Exitus.
Wenn, wenn, wenn, hätte, hätte, hätte …
Was hielt ihn noch auf Föhr?
Das Geschäft? Das war am Ende.
Seine Mutter? Sobald Imkes Mitbewohner aus den Flitterwochen zurückkehrten, war sie in ihrer Wohngemeinschaft hinterm Deich bestens versorgt.
Also los!
Ekki hatte bestimmt einen Job für ihn, er wollte ja nicht gleich in die Geschäftsführung mit einsteigen, sondern nur einen Lieferwagen von A nach B fahren. Dafür würde er notfalls auch nach Berlin ziehen. Er zog sein Handy aus der Tasche. Eigentlich war es viel zu laut, um zu telefonieren: Der Wind knatterte in den Hörer, außerdem veranstaltete eine Möwenkolonie über ihm gerade einen Höllenlärm. Vor ihm hüpften ein paar Sandregenpfeifer mit schwarzen Federn und feuerrotem Schnabel über eine Sandbank und versuchten alles noch zu übertönen. Arne ließ sich von der Auskunft die Nummer der Spedition in Berlin geben und wurde direkt mit der Zentrale verbunden.
«Spedition Pauling, was kann ich für Sie tun?», meldete sich eine freundliche Frauenstimme. In dem Moment kam die Sonne raus und brachte sämtliche Pfützen im Watt zum Glitzern, wie Spiegel, die jemand auf dem Meeresboden ausgelegt hatte.
Er nahm all seinen Mut zusammen.
«Arne Riewerts. Ich hätte gern Ekkehard Pauling gesprochen.»
Viele Föhringer vor ihm waren ausgewandert, als die Insel sie nicht mehr hatte ernähren können, schoss es ihm durch den Kopf. Mit dem Ergebnis, dass heute mehr Föhrstämmige in New York, Long Island und Kalifornien lebten als auf der Insel selbst. Berlin war dagegen die kleine Lösung.
«Wie war noch gleich Ihr Name?»
«Arne Riewerts.»
«Einen Moment bitte, ich verbinde Sie.»
Doch bevor er weitergeleitet wurde, drückte Arne die rote Taste. Seinen Kumpel Ekki anzubetteln, ging einfach nicht.
Er zog die Schuhe aus und stapfte durchs flache, ablaufende Wasser Richtung Festland. Angeblich gab es Insulaner, die es geschafft hatten, bei Ebbe bis nach Dagebüll zu laufen. Kennengelernt hatte er allerdings noch keinen. Entweder er schaffte es bis zum Festland oder eben nicht. Das sollte das Schicksal entscheiden.
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10.
Oma blinzelt
Jade schob ihre Oma langsam vom Südstrand zur Wyker Innenstadt. Sie fühlte sich großartig. Bald würde sie die erste Riesenparty ihres Lebens organisieren, das war mindestens genauso spannend wie die Piratenaktion in der Bank.
«Hast du Mommes Telefonnummer?», fragte Jade.
Oma schüttelte den Kopf.
Sie zückte ihr Handy und rief die Auskunft an – Fehlanzeige.
«Wo wohnt er denn?»
EIN HOF IN DER MARSCH.
«Na super, und wie sollen wir da hinkommen? Mein Käfer ist immer noch kaputt.»
ARNES WAGEN?
«Nee, dann bekommt er ja alles mit. Die Sache muss in trockenen Tüchern sein, bevor ich ihn einweihe.»
Omas Blick verriet Skepsis.
Sie näherten sich dem Sandwall, der das «Wohnzimmer» der Stadt Wyk genannt wurde: eine Häuserreihe voller kleiner Geschäfte und Cafés vor dem
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