Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
findest … Weißt du überhaupt, was das ist?»
Dafür erntete Jade einen finsteren Blick. Sie nahm den Zettel in die Hand und las den Namen, den Oma aufgeschrieben hatte.
«Was? Den kenne ich ja!», rief sie erstaunt.
Imke setzte ein triumphierendes Lächeln auf. In diesem Moment hatte sie ihre Enkelin auf der Überholspur locker abgehängt und lag ganz weit vorne.
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9.
Heidnische Rituale
Bei Regen und grauem Himmel hätte Arne sich an diesem Tag genau richtig gefühlt, aber die strahlende Sonne und der blaue Himmel deprimierten ihn: Allen ging es gut, alle waren fröhlich, während er am Abgrund stand.
Er huschte über den Garten des Erdbeerparadieses hinaus in den Kirchweg, der direkt zur nahegelegenen Nicolaikirche führte. Deren mächtige Glockenschläge waren im Erdbeerparadies stündlich zu hören – falls die Musik im Tanzsaal sie nicht gerade übertönte.
Der gestrige Abend mit den Sturmflut-Wölfen war ein finanzielles Fiasko gewesen, seine letzten Reserven waren aufgebraucht. Kaum einer von den Fans von früher war gekommen. Aber warum bloß? Was hatte er falsch gemacht?
«Wieso seid ihr alle so lahm geworden?», hätte er seinen ehemaligen Freunden am liebsten entgegengerufen. Andererseits lohnte es sich nicht, darüber nachzudenken, sie würden sich ohnehin nicht ändern. Jetzt besaß er nur noch die Getränke, die in der Kneipe vorrätig waren, Nachbestellungen waren nicht mehr drin. Die Getränkelieferanten lieferten ihm nur noch gegen Vorkasse, weil er bei allen tief in der Kreide stand. Die Situation schrie geradezu nach einem Kleinkredit seiner Bank. Aber Hark Petersen, sein zuständiger Sachbearbeiter, trug nicht umsonst den Spitznamen «Hark the Shark» – Hark, der Hai: Keinen Cent wollte Hark ihm mehr geben.
Eine letzte Chance hatte er noch: Am Telefon hatte ihm sein Freund Barni erzählt, dass Hark the Shark gerade Urlaub auf Sardinien machte und in der Bank von seinem Kollegen Hinnerk Trulsen vertreten wurde. Dem hatte Arne wiederum vor Jahren das Surfen beigebracht. Er hatte Hinnerks außerordentliches Talent schnell erkannt und mit ihm ein Spezialtraining durchgeführt, woraufhin der Junge einer der besten Kitesurfer Föhrs geworden war. Auf Sylt und sogar in den USA hatte Hinnerk bei hochkarätigen Wettbewerben vordere Plätze belegt. Arne wusste, dass der Bankjob nur eine Notlösung war, weil es für die Spitzenliga mit hohen Werbeverträgen dann doch nicht ganz gereicht hatte. Außerdem ging Hinnerk nun auch schon auf die dreißig zu und hatte damit beim Surfen den Zenit überschritten. Hinnerk war sein Mann. Er würde Arne einen Kredit nicht abschlagen, nicht nach alldem, was er ihm zu verdanken hatte.
Bevor er zur Bank ging, wollte er jedoch ein Ritual vollziehen, das ihm in Krisensituationen immer geholfen hatte. Er ging über den dichtbewachsenen Friedhof zur Nicolaikirche und betrat andächtig ihr Inneres. Das Gotteshaus aus dem 13. Jahrhundert war hell und freundlich, die Spitzbögen waren mit roten und schwarzen Ornamenten und mit langstieligen fünfblättrigen Blumen verziert. Er stellte sich vor den pompösen barocken Holzaltar, der Szenen aus dem Leben Christi zeigte. Im Mittelpunkt stand nicht, wie üblich, die Kreuzigung, sondern das letzte Abendmahl. Irgendwie passte das zu seiner Stimmung, denn genau so fühlte er sich auch: wie beim letzten Abendmahl vor der Kreuzigung!
Er schlenderte zu einer der Bänke und kniete sich hin. So würde er zur Ruhe kommen und könnte ein Gebet in den Himmel schicken – und hoffen, dass er erhört würde.
Nach einer Viertelstunde verließ er die Kirche mit dem Gefühl, dass das Ritual nicht gereicht hatte. Vielleicht brauchte es diesmal mehr. All seine Vorfahren hatten sowohl christlichen als auch heidnischen Ritualen vertraut. Kein Kirchenmann hatte den Friesen zum Beispiel das alljährliche Biikebrennen austreiben können, bei dem riesige Feuer am Strand entfacht wurden, um böse Geister zu vertreiben. Es gab auf Föhr einen Ort, der erwiesenermaßen heidnisch war, hier hatten Archäologen Gegenstände gefunden, die aus der Zeit vor der Besiedlung Föhrs durch die Friesen stammten. Später hatten Wikinger dort eine Burg gebaut von über neunzig Meter Durchmesser: die Lembecksburg bei Borgsum, gewissermaßen das Föhrer Stonehenge. Die Reste der Anlage bestanden aus einem kreisrunden Wall, der begrünt war wie ein Deich. Es hätte auch der Krater eines erloschenen Vulkans sein können.
Er parkte
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