Oma ihr klein Häuschen
geschleppt? Unglaublich!
Vorsichtig betten wir Johannes auf die Decke, die Oma vorbereitet hat. Jetzt legt sie sich neben ihn und streicht sanft durch sein volles Haar. Johannes’ Augen öffnen sich und leuchten matt, aber unendlich dankbar. Schnell baut Arne den Sonnenschirm über ihnen auf, dann ziehen wir uns zurück.
Jeder von uns sucht sich einen Platz in den Dünen.
Christa bleibt in der Nähe des Windschirms, falls Oma Hilfe benötigt, Arne und ich verkrümeln uns links und rechts oberhalb des Lagers, wie Wächter auf einem Turm.
Der Wind ist auflandig und bläst mit bestimmt vier Stärken. Er trimmt den Strandhafer gegen den Strich, sodass sich alle Halme der Windrichtung beugen. Doch kaum lässt der Wind mal nach, fällt das zähe Gras wieder zurück in die ursprüngliche Form. Einmal erwischt mich so eine Bö, die leichten, hellen Sand in die Luft schleudert, und ich muss die Augen schließen. Kurz danach knirscht Sand zwischen meinen Zähnen. Hoffentlich bleibt Johannes davon verschont.
Ich hole Pullover und Jackett aus Christas Rucksack. Von meinem Platz aus sieht die Szenerie hinter dem buntenWindschutz aus wie ein perfektes Urlaubsidyll. «Es ist bitter, im Sommer zu sterben», denke ich, und merke sofort, dass das Unsinn ist. Im November ist es vermutlich noch viel schlimmer.
Wie jeder von uns habe ich schon einige hundert Menschen sterben sehen, im Kino und im Fernsehen. Mit Musik und letzten klugen Worten des Sterbenden. Doch unter unserem Sonnenschirm gibt es keine Musik und keine klugen Worte. Johannes reißt verzweifelt die Augen auf und strengt sich irrsinnig an, seine geliebte Frau im Blick zu behalten. Als könnte er den letzten Anblick als Standbild mit in die Ewigkeit nehmen. Zwischendurch bleibt immer wieder sein Atem weg, sein Körper bäumt sich auf, dann kommt er wieder und sucht erneut den Blick seiner Geliebten.
Plötzlich erkenne ich Maria. Sie kommt von unten über den Strand zu uns. Die schwarze Stola, die sie über ihre schwarze Jacke geworfen hat, wirkt auf altmodische Art dem Anlass angemessen. Sie kommt genau im richtigen Augenblick. Wenn mich jetzt überhaupt etwas trösten kann, ist sie es. Anstelle einer Begrüßung schauen wir uns kurz und ernst in die Augen. Sie wirft einen kurzen Blick hinter den Windfang zu Oma und Johannes und beißt sich auf die Lippen. Dann sucht sie sich ebenfalls einen Platz in den Dünen, nicht weit von mir, von wo aus sie sowohl das Meer als auch Johannes im Blick hat.
Wie angenehm, dass ich für mich sitzen darf und sie trotzdem in meiner Nähe weiß. Ich starre auf die Wogen mit den tanzenden Schaumkronen auf der Spitze, die sich gewaltig auftürmen, bevor sie mit Gebrüll auf den Strand schlagen und flach in alle Richtungen zerfließen. In meiner Jacketttasche finde ich einen vergessenen Vitaminbonbon, den ich mir in den Mund stecke. Ich spüre erst beim Kauen, dassnoch ein paar Stoffreste daran kleben, und schlucke sie mit herunter.
Viel zu spät bemerke ich die Familie mit den zwei kleinen Kindern, die sich nun vom Strand unserem Dünenlager nähert. Sie sind nur noch fünfzig Meter entfernt. Mir fällt sofort auf, dass der dünne Vater und die dicke Mutter genau die gleichen Sonnenbrillen tragen. Ihre Kinder schleppen Schaufeln und Eimer in der Hand und grölen mit viel Spaß ein Kinderlied: «Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, Mootooorrrrad, Motooooorad …»
Kaum etwas könnte weniger passen.
Zielsicher steuern sie auf unsere Düne zu, wahrscheinlich ihr Stammplatz seit Wochen.
Und nun?
Arne reagiert als Erster, sprintet ihnen hastig entgegen und redet auf sie ein. Den Vater scheint das nicht zu beeindrucken, er geht stur weiter. Er trägt ein Motto- T-Shirt mit der Aufschrift:
«To be or not to be».
In seiner Verzweiflung hält Arne ihn am Arm fest, was ein großer Fehler ist, denn nun wird der Kerl auch noch aggressiv. Ich eile dazu und höre den Mann schon von weitem schimpfen. «Hier isch überhaupt koa Sperrgebiet, ihr wollt des nur für eusch habe. Des seh i gar nit ein.»
Als ich näher komme, erkenne ich auf seinem T-Shirt seinen Spitznamen, den ich überlesen habe: «
To be
Jockel
or not be
».
«Kann ich Sie kurz alleine sprechen?», frage ich ihn.
Arne lässt ihn los.
Ich schiebe den Mann beiseite und zeige auf den Sonnenschirm: «Wir haben ein Problem», beichte ich ihm die Wahrheit, «unser Vater liegt dahinten im Sterben.»
Jockel wird jetzt richtig sauer: «Des isch ja wohl die blödste
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