Oma ihr klein Häuschen
Lüge, wo isch je g’hört hab!»
Ich kann nicht mehr.
«Vielleicht ist es auch gut so», sage ich leise, «Kinder nehmen den Tod natürlicher, als man denkt.»
Ich nicke Arne kurz zu, dann gehen wir beide zurück zu Oma. Jockel zögert einen Moment, aber er riskiert es nicht, uns zu folgen. Ich schaue hinter den Windfang. Johannes liegt immer noch mit seinen bunten Boxershorts und dem schwarzen T-Shirt unter dem Sonnenschirm, er hat die Augen geschlossen.
Es ist vorbei.
Meine starke, tapfere Oma hält seine Hand und schaut traurig, aber auch erleichtert aufs Meer. Erst als sie die Tränen sieht, die mir übers Gesicht laufen, schluchzt sie auf und weint auch hemmungslos. Ich gehe zu ihr und schließe sie in meine Arme.
Arne steht dabei und streichelt die Hand seiner Mutter.
Dann schaue ich zu Johannes, der neben uns im Schatten liegt wie ein dösender Urlauber. Nur wenn man genauer hinsieht, ist unter seiner braunen Haut eine Blässe zu erkennen, die nicht zum Leben gehört. Meine starke, tapfere Oma nimmt ein Handy aus ihrer Bademanteltasche, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und ruft Dr. Behnke an.
Ich schaue mich um.
Nichts hat sich verändert.
Der Wind spielt mit dem Dünengras, und auf den Wellen tanzen weiße Schaumkronen.
24. Unter großen Himmeln, ganz nah II
Es tut gut, mit dem Rivaboot auf der kippligen See zurückzufahren. Die Gischt spritzt immer wieder wütend über unsere Köpfe hinweg. Maria sitzt achtern auf dem Sonnendeck und hat sich den Windschutz über ihre schwarze Kleidung geworfen, um nicht nass zu werden. Ich sitze in Pulli und Jackett neben Arne, der das Ruder fest in der Hand hält. Drei Austernfischer mit leuchtend roten Schnäbeln begleiten uns eine Weile beständig mit ihren Rufen, sind dann aber plötzlich verschwunden.
Ohne Christa wären wir am Strand wohl alle überfordert gewesen. Sie hat Johannes’ Unterkiefer sofort nach seinem Tod mit einer Mullbinde festgebunden, damit er nicht nach unten rutschte. Ich hätte das nicht fertigbekommen. Und zum Glück besitzt unsere Familie Dr. Behnke als Freund, der schon nach zwei Stunden mit seinen Helfern am Strand war. Sie betteten Johannes auf eine Trage, bedeckten seinen Körper mit einem schneeweißen Laken und brachten ihn zum Krankenwagen.
Oma begleitet ihren Geliebten auf die Fähre nach Föhr, das erspart ihr die erneute Fahrt mit dem kleinen Rivaboot über die unruhige See. Außerdem ist sie so unter ärztlicher Obhut, immerhin lag sie heute Morgen noch im Krankenhaus.
Ich habe Oma versprochen, zusammen mit Maria alle Vorbereitungen für die nächsten Tage zu übernehmen. Das Absurde ist ja: Wenn jemand gestorben ist, tritt danach keine Stille ein, sondern Geschäftigkeit. Freunde und Angehörige müssen schnell benachrichtigt werden, und es muss geklärt werden, wo auswärtige Trauergäste schlafen, was es beim sogenannten Leichenschmaus zu essen und zu trinken gibt etc. Eine Beerdigung ist ein Event, und davon verstehe ich etwas.
Im Wyker Hafen hat eine Schute mit Kies festgemacht, ein Bagger schaufelt gerade den begehrten Rohstoff, den es auf der Insel nirgends gibt, mit aufheulendem Motor auf einen Lastwagen. Vermutlich für das nächste Wochenendhaus eines wohlhabenden Hamburgers. Mir tut der Lärm gut, denn er zwingt mich zurück ins Diesseits.
«Ich muss das Boot heute noch nach Dagebüll bringen», sagt Arne, als er Maria und mich an einem Steg an Land springen lässt. Es ist gerade mal früher Nachmittag. Gegenüber kommt ein weißes Ausflugsschiff an, dessen Seitenwand mit einem riesigen lachenden Seehund verziert ist, der aus unerfindlichen Gründen ein rotes Herz jagt. An die hundert Urlauber verschiedenen Alters wanken angetrunken von Bord, vielleicht eine Kegelgesellschaft oder ein Chor. Überall wuseln Touristen herum, ein Fischbrötchen nach dem anderen wandert über den Tresen der Verkaufswagen.
«Bist du klar?», frage ich Maria. Sie trägt immer noch die schwarze Stola über ihrer Jacke. Es ist absurd, aber nicht zu übersehen: Sie hat, während Johannes starb, ordentlich Farbe im Gesicht bekommen.
«Geht so», meldet sie mit ernstem Gesicht zurück, «und du?»
«Sollen wir gleich loslegen?», schlage ich vor.
Damit erschrecke ich sie sichtlich: «Du meinst sofort?»
«Ich kann jetzt nicht stillsitzen und nachdenken. Außerdem muss es gemacht werden. Aber wenn du noch etwas Zeit brauchst, warte ich.»
Maria kaut auf ihrer Lippe.
«Nee, lass uns mal», stimmt sie
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