Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Palermo, und das Verfahren wurde von der Presse des italienischen Festlands kaum erwähnt. Dennoch war der Sangiorgi-Prozess aus historischer Sicht ebenso wichtig wie die Notarbartolo-Affäre, zumal er ein für alle Mal hätte beweisen können, dass die Mafia existierte.
Sangiorgi, ein alter Hase in sizilianischen Angelegenheiten, mochte den Ausgang des Verfahrens geahnt haben, dessen Vorbereitung ihn nahezu drei Jahre gekostet hatte. Nachdem General Pelloux aus dem Amt geschieden war, sah sich Sangiorgi erneut dem Beziehungsgeflecht ausgeliefert, das die Mafia geschaffen hatte, um sich in ihrer Hochburg zu schützen. Die meisten Mafiosi, auch der ehrwürdige
capo
Antonino Giammona, waren, noch ehe der Fall den Gerichtssaal erreicht hatte, schon wieder auf freiem Fuß.
Die wahrscheinlichste Erklärung für die Freisprüche war, dass Sangiorgi, wie bereits in der Affäre um den »Brudermord« von 1876 / 77 , wieder einmal auf den heimtückischen Widerstand von Siziliens erfahrenstem Gerichtshof gestoßen war. Einige Tage vor Prozessbeginn schrieb der Palermer Oberstaatsanwalt, ein gewisser Vincenzo Cosenza, einen Brief an den Justizminister, um ihm zu erklären, dass er selbst in Ausübung seiner Pflicht die Mafia niemals bemerkt habe, »weil der Mafia nicht daran gelegen ist, die Priester der Themis zu umgarnen«. (Er meinte die Richter, da Themis im antiken Griechenland die Göttin von Sitte und Ordnung war.) Ein Richter in Palermo, der sich nicht vorstellen konnte, warum die Mafia das Rechtssystem korrumpieren sollte, war bestenfalls sträflich naiv. Doch Vincenzo Cosenza war nicht naiv: Er war von Leopoldo Notarbartolo als einer der Gönner Palizzolos identifiziert worden und damit ein Haupthindernis auf dem Weg, Don Raffaele und seine Killer zur Rechenschaft zu ziehen.
Gerichtsskizzen aus damaligen Zeitungen.
Der große Feind der frühen sizilianischen Mafia: Ermanno Sangiorgi. Eine Zeitung schrieb über diesen tüchtigen Polizisten, er sei »munter wie ein Eichhörnchen« und verfüge über einen »verlässlichen Spürsinn«.
Ehrenmänner, die 1900 dem Polizeichef Sangiorgi kurz ins Netz gingen.
Giuseppe Giammona, der Boss von Passo di Rigano und der Sohn des ehrwürdigen
capo
Antonino Giammona.
Francesco Siino, der vor kurzem abgesetzte »Oberboss«.
Die Brüder Francesco und Pietro Noto, Boss und Unterboss in Olivuzza und verantwortlich für die »Sicherheit« im Haus der Florios, einer der reichsten Familien auf Sizilien.
Der Prozess selbst lief so schlecht, wie Sangiorgi es befürchtet hatte. Die meisten seiner Zeugen zogen ihre Aussagen zurück. Die Beschützer der Mafia in der gesellschaftlichen Elite traten in den Zeugenstand, um ihren kriminellen Freunden makellose Leumundszeugnisse auszustellen: »Die Giammonas genießen in der Gegend hohes Ansehen«, erklärte ein Lokalpolitiker. Ein Großgrundbesitzer schwärmte gar:
»Die Giammonas sind zu jedermann, der mit ihnen Geschäfte macht, stets großzügig gewesen. Niemand kann ein schlechtes Wort über sie sagen.«
Eine gänzlich unglaubwürdige Behauptung, doch allzu verständlich, wenn man bedenkt, dass dieser spezielle Zeuge Land besaß, das sowohl an die Ländereien Francesco Siinos als auch an jene des Giammona-Clans angrenzte.
Das Haus Florio war einfach zu mächtig, um in den Fall verwickelt zu werden: Kein Familienmitglied des Reedereibarons wurde in den Zeugenstand gerufen, um zu erklären, worin
genau
die Verbindung der Familie Florio zur Olivuzza-Mafia bestand. Ignazio Florio beschränkte sich auf eine schriftliche Aussage, in der er alles abstritt.
Verteidiger beschrieben den Mafiakrieg als eine Fehde zwischen unterschiedlichen Familienclans. Einer nach dem anderen zog Sangiorgis Theorie ins Lächerliche, dass Männer, die sich gegenseitig an die Kehle gingen, insgeheim Mitglieder derselben Sekte sein könnten. Die Omertà, das Schweigegebot, behaupteten sie, gehöre mitnichten zum Regelkanon einer Organisation. Wie Anthropologen bestätigt hätten, handle es sich dabei um den typisch sizilianischen Ausdruck eines »übersteigerten Individualismus – der zweifellos auch positive Seiten hat«. Die Mafia sei eine Art
cavalleria rusticana
, ein »bäuerliches Rittertum«, und als solches gleichsam die derbere Variante der edelsten Ausprägung des sizilianischen Wesens; sie loszuwerden – falls dies überhaupt möglich sei – hieße, Sizilien grundlegend zu verändern.
Die meisten Mafiosi kamen frei, der Rest verbüßte die kurze
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