Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
Vom Netzwerk:
Gefängnisstrafe, die eine »Versammlung in krimineller Absicht« üblicherweise nach sich zog. Sangiorgi musste sich erneut geschlagen geben.
     
    Im September 1901 wurde der zweite Prozess im Mordfall Notarbartolo eröffnet. Die Stadt, die man für das mit Spannung erwartete Verfahren auserkoren hatte, war Bologna. Mit ihren Arkaden und der alten Universität war Bologna eine der am besten verwalteten Städte Italiens. Genau wie Mailand befand sie sich in sicherer Entfernung zur Schlangengrube Palermo. Doch im Unterschied zu Mailand war Bologna konservativ: Seine Geschworenen ließen sich nicht so leicht von subversiver Propaganda lenken.
    Vielleicht war es eine von der öffentlichen Darstellung erzeugte optische Täuschung. Vielleicht hatte auch die monatelange Haft vor dem Prozess ihren Tribut gefordert. Jedenfalls wirkte Don Raffaele Palizzolo, als er sich einige Tage nach Prozessbeginn erhob, um seine Aussage zu machen, regelrecht geschrumpft. Er trug keine Ringe mehr an den Fingern, und als Thron diente ihm statt des Mahagonibetts ein einfacher Stuhl. Ob er die Geschworenen beschwatzte, zur Galerie hinaufschrie oder mit sich selbst redete, Palizzolo schien außerstande, den rechten Ton zu treffen. Es war, als wäre er so sehr an die Körpersprache seiner Günstlingswirtschaft gewöhnt – überschwengliche Begrüßung, Gemauschel im Flur –, dass er keine Pose fand, die er im offenen, öffentlichen Umgang hätte einnehmen können.
    »Ich war das einzige Parlamentsmitglied, das für die Wähler verfügbar war (…) Ich ging zu den Leuten, lebte mit ihnen, versuchte, ihnen Ratgeber und Freund zu sein. Und die Leute waren dankbar.«
    In London kommentierte die
Times
seinen unbeholfenen Auftritt mit typisch britischem Understatement, indem sie behauptete, Palizzolos Zeugenaussage entbehre der »schlichten Redlichkeit, die zu überzeugen vermag«. Leopoldo Notarbartolo, noch immer in Marineuniform, trat in Bologna ebenso selbstsicher in den Zeugenstand wie in Mailand. Erneut die
Times
:
    »Die Aussage Leutnant Notarbartolos, der sachlich und gewissenhaft die Tatsachen darlegte und dabei sorgfältig zwischen Fakt und Folgerung unterschied, hielt das Gericht in Atem.«
    Auch Polizeichef Sangiorgi wurde in den Zeugenstand gerufen, obwohl seine Aussage meines Wissens nicht einer einzigen ausländischen Zeitung eine Erwähnung wert war. In Bologna zumindest war er bekannt, denn dort hatte er Mitte der 1890 er Jahre als Polizeipräsident gedient. Die lokale Presse konstatierte, er habe sich bis auf ein paar zusätzliche graue Haare im blonden Bart und dem lichten Haaransatz kaum verändert. Er berichtete ohne Umschweife von der Macht der Mafia.
    »Die Mafia ist mächtig und verfügt über Kontakte in fünf sizilianischen Provinzen. Sogar im Ausland gibt es sizilianische Kolonien.«
    Die Verteidiger taten seine Aussage ab: Der Prozess, der unlängst in Palermo stattgefunden habe, stütze kaum diese höchst unwahrscheinliche Behauptung.
    Siziliens reichster Mann, Ignazio Florio, erschien zwar in Palermo nicht vor Gericht, doch in Bologna kam er um den Zeugenstand nicht herum. Die Mafia, behauptete er, sei »eine Erfindung mit dem Ziel, Sizilien zu verunglimpfen«. Eine Erfindung freilich, die seine luxuriöse Villa beschützte und ihm dabei half, den Aktienpreis seines Schifffahrtsunternehmens NGI in die Höhe zu treiben. Florio war eine Schlüsselfigur im Ermittlungsfall. Der NGI -Aktien-Schwindel mit dem Geld der Bank von Sizilien galt als Grund für die von Palizzolo angeordnete Ermordung Emanuele Notarbartolos. Und doch wusste Florio dieses Thema irgendwie zu umgehen. Dass ihm dies so ohne weiteres gelang, bezeichnete ein Historiker sarkastisch als ein »Wunder«.
    Das Urteil, das nach fast elf Monaten der Zeugenbefragung gefällt wurde, war für die meisten eine Überraschung. Palizzolo verschränkte die Arme und gab ein krampfhaftes Lachen von sich, als er hörte, dass er, genau wie der mutmaßliche Mörder Giuseppe Fontana, zu 30  Jahren Haft verurteilt worden war. Die Mehrheit der Geschworenen war offensichtlich zu der Überzeugung gelangt, dass Palizzolos Schuld die einzig mögliche Erklärung war für all die Vertuschungsversuche, trotz des Mangels an stichhaltigen Beweisen gegen ihn.
     
    Palizzolos Verurteilung war der Höhepunkt einer landesweiten Debatte über die Mafia, die zweieinhalb Jahre zuvor in Mailand losgetreten worden war. Es folgten ein kleinerer Veröffentlichungsboom und ein größeres

Weitere Kostenlose Bücher