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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Schaufenster zur Welt. Mit seinen starken radikalen Traditionen, als Sitz der Sozialistischen Partei und deren beißender Zeitung
Avanti!
war Mailand auch der perfekte Resonanzkörper für den Notarbartolo-Skandal.
    Doch als der Prozess endlich eröffnet war, saßen nur zwei Personen auf der Anklagebank: der Bremser und der Schaffner des Zuges, auf dem Notarbartolo über sechseinhalb Jahre zuvor erstochen worden war. General Pelloux hatte nicht genügend Druck auf die Richterschaft in Palermo ausgeübt. Für die Staatsanwaltschaft waren die beiden Eisenbahner Komplizen der Mafiakiller. Für die Verteidigung waren sie schlimmstenfalls verschreckte Zeugen. Für Leopoldo Notarbartolo waren sie die Gelegenheit, einen Feuersturm zu entfachen, der letztendlich Don Raffaele Palizzolo an die Öffentlichkeit treiben würde.
    Am 16 . November 1899 trat Leopoldo Notarbartolo in Mailand in den Zeugenstand und machte so unbeirrbar seine Aussage, dass sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre. Energisch und mit tiefer Stimme beschuldigte Leopoldo ausdrücklich Palizzolo, die Ermordung seines Vaters angeordnet zu haben, und äußerte daraufhin, was er alles über die Mafia und die Bank von Sizilien in Erfahrung gebracht hatte. Er richtete zudem schwere Vorwürfe gegen Polizei und Justiz, die Palizzolo nicht ein einziges Mal zu dem Fall befragt hatten.
    Sofort wurden Rufe laut, Palizzolo solle den Hut nehmen. Der politische Druck auf ihn wurde von Tag zu Tag stärker, bis das Parlament in einer Sondersitzung beschloss, seine Immunität aufzuheben. Noch am selben Abend erließ Polizeichef Ermanno Sangiorgi den Befehl, ihn zu verhaften.
    Leopoldo Notarbartolo hatte den Feuersturm bekommen, den er sich gewünscht hatte. Die Zeitungen im In- und Ausland verbreiteten finstere Geschichten über Palizzolo, teils real, teils erfunden. Er erschien wie eine lebendig gewordene Groteske. Ein in Italien wohnhafter Amerikaner, der es verständlicherweise vorzog, anonym zu bleiben, erzählte, er sei zu einer der allmorgendlichen Audienzen gebeten worden, die Palizzolo in seinem prächtigen Haus an Palermos Hauptstraße zu halten pflegte.
    Palizzolos Bett war sein Thron: Der schwere Rahmen aus Mahagoniholz war mit Intarsien aus Perlmutt verziert und von einem Baldachin überspannt; es stand inmitten zahlreicher üppig verzierter Spucknäpfe und Rasierspiegel im Zentrum eines Saals, der mit rosafarbener Seide geschmückt war. Eine Schar von Bittstellern hatte sich ringsum versammelt: Mitglieder des Stadtrats, die nach Sitzen in Ausschüssen schielten, Polizisten, die vorankommen wollten, und ehemalige Sträflinge, die noch immer ihren Gefängnishaarschnitt trugen. Der Diener Palizzolos pflegte einen Bittsteller nach dem anderen aufzurufen und vor eine der breiten, aufgepolsterten Flanken des großmächtigen Bettes zu führen. Dort saß aufrecht in seinem Nachtgewand Palizzolo und begrüßte sie allesamt überschwänglich. In der einen Hand hielt er einen Becher Schokolade, mit der anderen vollführte er ausladende Gesten.
    »Palizzolo ist ein kleiner Mann mit einem kurzen, feisten Stiernacken und schwarzem, glänzendem Haar, das in der Mitte des Kopfes gescheitelt ist. Abgesehen von den buschigen Brauen weist sein Gesicht kaum maskuline Züge auf. Sein Kinn ist schwach ausgeprägt, und seine Stirn zeugt eher von Gerissenheit als von Gedankentiefe und Charakterfestigkeit.
    Die Finger seiner feisten Stummelhände sind voller Ringe – aristokratische Ringe, Schlangen- und Siegelringe, mit Diamanten, Rubinen und Opalen bestückt, ein ganzes Juweliersortiment. Doch unter diesem recht vulgären Prunk, unter dieser halb weibischen, halb geckenhaften Maske verbirgt sich ein schlauer, berechnender Verstand, den man nicht unterschätzen sollte.«
    Während der Prozess in Mailand voranschritt, kamen immer mehr spektakuläre Informationen ans Licht. Ein Stationsvorsteher hatte bei einer Gegenüberstellung einen der Mörder erkannt, doch war seine Aussage so lange ignoriert worden, bis er sie aus Angst zurückgezogen hatte. Ein Polizeiinspektor, der Palizzolo nahestand, wurde im Zeugenstand verhaftet, weil er Beweismittel unterschlagen hatte; ungefähr 20 weitere Zeugen wurden wegen Meineids zur Rechenschaft gezogen. Der Kriegsminister musste zurücktreten, nachdem eine republikanische Zeitung offengelegt hatte, er habe sich dafür eingesetzt, dass ein einflussreicher Mafioso rechtzeitig vor den Wahlen aus der Haft entlassen wurde. Das Gericht erfuhr außerdem,

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